Wilhelm Salber zum Gedenken

Hunderte von Menschen nahmen am 15 Dezember 2016 an der Beerdigung Wilhelm Salber in Köln teil. Er war am 2. Dezember in Köln verstorben. Aus allen Teilen Deutschlands waren Angehörige, Kollegen, Freunde und Schüler des Begründers der Psychologischen Morphologie zusammengekommen. In der Kapelle des Friedhofs auf Melaten sprachen Generalvikar Meyering, der Sohn des Verstorbenen Prof. Dr. Daniel Salber und Prof. Dr. Dirk Blothner, Vorsitzender der WGS. Herr Daniel Salber konnte in der gegebenen Zeit nur einen Teil seiner Rede vortragen. Um die Freunde und Kollegen Wilhelm Salbers an die stimmungsvolle Andacht zu erinnern und um Interessierten den vollen Wortlaut der beiden Trauerreden zugänglich zu machen, drucken wir sie an dieser Stelle ab.

Die Rede von Prof. Dr. Daniel Salber

Da es mir noch an Worten fehlt, etwas über meinen Vater zu sagen, leihe ich mir die Worte eines Größeren: ich lese Ihnen Rilke vor, das V. Sonett an Orpheus. Ich trage das Gedicht im Ganzen vor. Anschließend möchte ich Ihnen sagen, was es mir über meinen Vater sagt.

Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.
Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose
in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn

um andre Namen. Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.
Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale
um ein paar Tage manchmal übersteht?

O wie er schwinden muß, daß ihrs begrifft!
Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände.
Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht, indem er überschreitet.

Das Sonett beginnt mit der Aufforderung, etwas nicht zu tun:

Errichtet keinen Denkstein.

Errichten, Fest-Stellen des Denkens in einem starren Stein: das entspricht nicht Orpheus. Und nicht dem Denken Wilhelm Salbers, das ein Gang, ein Prozess IST. Im Stein wäre sein Denken nicht mehr unterwegs. Nur als Anstoß des Denkens kann ein Denkstein seine Berechtigung haben – nie kann er das Unterwegssein ersetzen.
Um Orpheus zu gedenken, ist ein eigentümliches Tun gefordert, keine Aktivität, sondern ein Lassen:

Laßt die Rose / nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.

Ein Lassen statt des Errichtens. Die Rose in ihrem Blühen und Verblühen ist Sinn-Bild des Orpheus. Alles Blühen ist vergänglich, kehrt aber immer wieder: jedes Jahr. Das jährliche Blühen-Lassen ist ein An-Denken an die Verwandlung. Der Verwandlung galt das ganze Denken meines Vaters.

Denn Orpheus ist’s. Seine Metamorphose / in dem und dem.

Im Blühen der Rose IST Orpheus, und: in dem und dem. Auch in Wilhelm Salber existierte etwas von Orpheus. Das orphische Sein ist Metamorphose. Unser Dasein als Metamorphose: das hat Wilhelm Salber gelehrt und gelebt. Und diese Seins-Erfahrung lebt weiter über ihn hinaus: in dem und dem.

Wir sollen uns nicht mühn / um andere Namen.

Wie das Errichten verfehlt die schwere Mühe des Benennens und Definierens die Leichtigkeit der orphisch-morphischen Seins-Erfahrung. Lasst es, sagt Orpheus. Lasst die Begriffs-Tüftelei. Durch Namen kann man zwar etwas nehmen, in Besitz bringen, beherrschen. Das aber verkehrt, wie der Denkstein, das Dasein, das immer unterwegs ist, das nur im Wandel „da“ IST.

Ein für alle Male / ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.

Es singt: das Singen IST Orpheus. Für Rilke ist Orpheus nicht irgendjemand, der singt, sondern das Singen selbst. Singend erfahren Menschen ihr Dasein. Nur singend „sind“ wir! Und dieses Singen, dieser Orpheus, sang auch aus Wilhelm Salber. Es sang aus ihm: als ein Geschenk, das nicht für alle Zeit festzuhalten ist. Denn Orpheus kommt und geht.

Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale / um ein paar Tage manchmal übersteht?

Orpheus geht über sein Sinnbild hinaus, ist auch in der Rosen-Schale nicht dingfest zu machen. Ich denke hier an die vielen Bücher meines Vaters, in denen er ist – und über die er doch immer hinaus war und ist.

O wie er schwinden muss, dass ihrs begrifft!

Wir sollen begreifen, dass Orpheus schwinden muss, dass er gehen muss. So wie auch wir eines Tages gehen müssen. Das Schwinden ist schmerzhaft, doch zugleich Voraussetzung, den Entschwundenen zu begreifen. Während des Singens ist Orpheus nicht zu fassen. Nur im Nachhinein ahnen wir, was einen Menschen wie meinen Vater wirklich bewegte.

Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände.

Wie ein Mensch hat Orpheus Angst vor dem Schwinden. Zugleich ist er sich aber gewiss, dass er schon woanders ist. Schwinden ist für ihn kein Auslöschen, sondern ein Entschwinden in einen anderen Bereich:

Indem sein Wort das Hiersein übertrifft, / ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.

Orpheus existiert im Übersteigen, im Übergang. Der Übergang war eine Lieblings-Kategorie meines Vaters. Übergang oder Übersteigung (Transzendenz) ereignet sich im Wort. Orpheus ist in seinem Wort schon dort, wohin wir ihn nicht begleiten können. Die Kunst, im Wort schon Woanders zu sein, im Wort neue Räume zu eröffnen, war eine orphische Gabe meines Vaters.

Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände. / Und er gehorcht, indem er überschreitet.

Orpheus ist ein Gehorchender. Auch Wilhelm Salber war ein Gehorchender. Dieses Gehorchen auf seine Bestimmung, das Horchen auf den Gesang des Seins, ist jedoch kein Befehlsempfang, sondern im Gegenteil ein Mitschwingen: ein Eröffnen des „Dort“.

Unser Dasein ist ein ständiges Zwischen Hier und Dort. Nichts einfach Vorhandenes! Sondern das, was im Durchgang durch die Enge der „Leier“ zu eröffnen ist. Genau das lehrte Wilhelm Salber: Dasein – das Seelische – ist nur im Überstieg des Hierseins. Dasein ist ein im Übergang Er-Wachsendes. Orpheus macht uns das vor.

Übergang wohin? Ins Dort. Zu den Wurzeln, zur Erde, zu den Toten (siehe VI. Sonett). Ins Dort unterwegs sind wir Menschen immer schon, insofern wir wirklich existieren. Davon singt Orpheus. „Gesang ist Dasein“ (III. Sonett). Und den Gesang des Daseins lehrte und lebte mein Vater. Und zwischen Hier und Dort wird er weiterhin sein – und singen.

Wilhelm Salber im Sommer 2003

Die Rede von Prof. Dr. Dirk Blothner

Nun ist der lang befürchtete Tag gekommen, an dem wir Wilhelm Salber zu Grabe tragen müssen. Er wurde 88 Jahre alt. Zweimal das Symbol der Unendlichkeit. Ein gutes Alter zum Sterben, hatte er uns im Sommer gesagt. Mein Dank und meine Anteilnahme gelten seiner Familie, die mich gebeten hat, an diesem Tag ein paar Worte zu seinem Gedenken zu finden.

In der schweren Erschütterung, die sein Tod hinterlassen hat, neigen wir dazu, Wilhelm Salbers Größe zu rühmen. Aber wie bemisst man die Größe eines Menschen und seines Werkes? Mit welchen Maßstäben, welchen Vergleichen? Salber selbst hat in unserer Gegenwart in Bezug auf Menschen nie von Größe gesprochen. Weder von der eigenen noch einer anderen. Schon als Kind hatte er ein tiefes Misstrauen in Auftritte, die Großes versprechen. Bei den Treffen des Jungvolks vor dem Krieg lachte er gerade an den heroischen Stellen. Eins aber ist gewiss: nimmt man sein Leben und sein Werk zusammen: es wird es niemals einen wie ihn geben.

Salber mochte nicht von Größe hören oder sprechen. Wohl aber von Stärke. Vor einer seiner Herz-Operationen sagte er mir, er habe eine „starke Seele“. Als wir in den 1990er Jahren einmal zusammen nach England reisten, fand ich es bemerkenswert, wie er jede Pause – etwa im Zug – dafür nutzte, seine Seele durch einen kleinen „nap“ (Minutenschlaf) aufzutanken. So hielt er sich frisch, wach und offen für die Dinge, die es zu sehen und zu denken gab. Die Stärke seiner Seele machte es ihm möglich, mutig und konsequent seinen eigenen Weg zu gehen. Mit seiner Psychologischen Morphologie sprengte er alt her gebrachte, erhabene Kategorien. Sehen und verstehen, was Sache ist, das war seine Leidenschaft. Emotion, Kognition, Motivation – entspricht das wirklich der seelischen Tätigkeit, wie wir sie beobachten? Es erforderte Stärke, die Psychologie aus ihren Abstraktionen und Formalisierungen herauszulösen und mitten hinein in den krausen Alltags zu stellen. Eine unglaubliche Tat schon das!

Salber wollte es genauer wissen. Seine Psychologie, aber auch seine unzähligen Zeichnungen sollten die Menschen mit ihrer seelischen Beschaffenheit vertraut machen. Nicht alle brachten den Mut auf, ihm darin zu folgen. Aber er blieb dabei. In einer seiner letzten Arbeiten sprach er sich für eine zweite, eine psychologische Aufklärung aus. Nur wenn wir wissen, wie wir die Wirklichkeit behandeln – das heißt immer auch vereinfachen, verbiegen, verdrängen – können wir den Garten der Erde „anders kultivieren“. Salbers Seele hatte die Kraft, die Veränderungen und Verkehrungen unserer Zeit furchtlos in den Blick zu nehmen. Sein Buch von 1993 „Seelenrevolution“ war der beeindruckende Auftakt. Ich selbst hatte das Glück, über viele Jahre bei regelmäßigen Treffen mit Alltags-, Produkt- und Kulturforschern teilzunehmen. Dabei konnte ich immer wieder staunend beobachten, wie er sich zu den neuesten Phänomenen der gesellschaftlichen Entwicklung einen entschieden psychologischen Standpunkt bildete. So auch zuletzt anlässlich der Flüchtlingskrise oder der amerikanischen Präsidentenwahl.

So ist der Verlust Wilhelm Salbers für uns alle tatsächlich unfassbar. Er hat uns nun allein zurückgelassen und zwingt uns dazu, einen ähnlichen Standpunkt aus eigener Kraft zu finden und aufrechtzuerhalten. Ich denke, er wünschte sich, dass wir in diesem Bemühen niemals nachlassen.

Im hohen Alter hatte Salber die Stärke, seine umfassenden Gedanken im Westentaschenformat zu veröffentlichen. Die Zeitschrift für Psychologische Morphologie anders, die ganz wesentlich auch durch seine eigenen Illustrationen Format hat, war sein Alterswerk. Die zuletzt erschienene Nummer 28 heißt Lachgeschichte. Darin erinnert Salber an die lange Reihe von Schriftstellern und Dichtern (von Aristophanes bis Arno Schmidt), die die „fragilen und riskanten Gestaltbildungen des Seelischen und das Lachen darüber, dass es nun einmal so ist“, so sahen wie er auch. In einer vorangegangenen Arbeit erst hatte Salber den Humor als die vielleicht einzige wirkliche Freiheit des Menschen bezeichnet und auch damit – wie kein anderer – dem Unbewussten und den gesellschaftlichen Zusammenhängen eine für uns alle schicksalshafte Macht eingeräumt. Seine Frau Linde erzählt, sie habe Salber nach der Lektüre von Lachgeschichte gesagt: „Das ist dein ‚Abriss der Morphologie‘. Und anders als Freud, bist du deinem Ansatz treu geblieben.“ Ihre Interpretation habe Salber sichtlich erfreut. Mit einem glücklichen Lächeln habe er sich dafür bedankt.

Wie Salber schon als Kind über heldenhafte Auftritte lachen musste, so beschäftigt er sich in seiner Lachgeschichte mit Anti-Helden der Literatur. Bei Mark Twain stieß er auf den gefallenen Engel Satan, der seinen Engel-Kollegen von der Erde aus Briefe schickt und darin beschreibt, mit was für kuriosen Dingen sich die Menschen beschäftigen. Ein besonderes Vergnügen scheint Salber daran gehabt zu haben, wie dieser Engel die Himmelsvorstellungen der Menschen darstellt. Zu dessen großer Verwunderung besteht der Himmel der Menschen nämlich ausschließlich aus Dingen, die sie auf Erden gar nicht mögen! Ist das nicht komisch? Die meisten Menschen singen nicht, wollen auch nicht singen, aber im Himmel wollen sie ständig singen. Die Menschen beten, wenige aus wirklicher Überzeugung. Aber im Himmel wollen sie dauernd beten? Auf Erden betätigen sich die Menschen, sie wollen tätig sein und spüren, dass sie etwas bewirken können. Im Himmel, jedoch, wollen sie angeblich tatenlos herumsitzen und singen und immer wieder singen: „Hosianna, Hosianna … Rhabarber, Rhabarber“. Für Mark Twain war klar, dass der Erfinder eines solchen Himmelsreiches sich das nicht selber ausgedacht haben kann. Er habe diese Vorstellung offenbar „dem Gepränge irgendeines Herrschers im hinteren Orient entnommen“. Das komme daher, dass die Menschen in der Regel gar nicht selbst denken. Sie übernähmen die Gedanken von anderen. Ich kann nicht sagen, wer sich diesen Himmel ausgedacht hat. Nur eins weiß ich: Dieser Himmel ist nicht für Wilhelm Salbers starke Seele gemacht. Er wird dort oben nicht sitzen und singen. Wenn er sich dort aufhält, wird er recht bald tätig werden. Er wird sich alles genau anschauen, wird es beschreiben und wahrscheinlich zeichnen. Und vielleicht erhalten wir dann einen Brief von ihm.

Nun heißt es Zeit, Abschied zu nehmen. Aber nicht, ohne uns noch einmal persönlich an den Verstorbenen zu wenden. In der Form, in der wir ihn in all den gemeinsamen Jahren und Jahrzehnten ansprachen: Lieber Herr Professor Salber. Nehmen sie bitte unseren großen Dank entgegen für alles, was sie uns gegeben haben. Sie haben uns gelehrt, das Leben so zu lieben, wie es ist.