Für Wilhelm Salber war der Alltag "der Größte". Auf der Grundlage von mehr als 1.500 Tiefeninterviews machte er sich daran, das Alltagsleben - so wie wir es vorfinden - zu erforschen. Seine Einschätzung:"Der Alltag des Seelischen ist seltsam, komisch, grotesk, paradox, unheimlich... eine ungeheure Maschinerie, die sich zwischen 'gemeinem' Material und kunstvollen Gestaltungen ausspannt."
Auf der Grundlage von Salbers 1989 erschienen Buches "Der Alltag ist nicht grau" und vieler anderer seiner Untersuchungen stellen wir auf dieser Website in lockeren Abständen Alltagsformen dar. Wir hatten mit dem morgendlichen Aufwachen begonnen. Nun stellen wir die Psychologie des aus dem Fenster Schauens dar.
“Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; denn was innen ist, ist außen.” (J.W. Goethe)
In seinen letzten Jahren bezeichnete Wilhelm Salber die unsere Zeit bestimmende und in die Jahre gekommene „Auskuppelkultur“ manchmal als „Babelwelt des Übermenschen“. Weltumspannende Reisen, Beschleunigung der Abläufe auf allen Ebenen, Suche nach ewiger Jugend und nicht nachlassendem Wachstum scheinen beweisen zu wollen, dass den Unternehmungen der Menschen keine Grenzen gesetzt sind. Haben die Siebenmeilenstiefel erst einmal Fahrt aufgenommen, lösen sich die Dinge am Wegesrand in einem grauen Rauschen auf. Sie werden zu „Nichtigkeiten“, für die keine Zeit zur Verfügung steht, denen keine Beachtung geschenkt wird. Der Shutdown des Wirtschaftslebens während der Corona-Krise lässt nun diese Nichtigkeiten wieder sichtbar werden. In der Verlangsamung des Lebens treten sie als kleine, aber unverzichtbare Drehfiguren des Seelischen hervor. Die Morphologische Alltagspsychologie ist der Auffassung, dass ohne die banalen und scheinbar unbedeutenden Dinge des Alltags das Seelische nicht überleben kann. Auch wenn es in ungebremster Getriebenheit zu neuen Ufern stürmt, muss es doch durch den Alltag hindurch. Selbst Top-Manager und Prominente beißen mitunter in einen Apfel, kommen über einer Tasse Kaffee ins Träumen und entdecken ungeahnte Seiten von sich im Klatsch über andere. Das Seelische würde erstarren, wenn es solche Verwandlungen nicht durchgehen könnte. Mit seiner Alltagspsychologie hat Wilhelm Salber den Nichtigkeiten des Alltags die Bedeutung zurückgegeben, die ihnen gebührt.
So ist auch der unscheinbare Blick aus dem Fenster mehr als Unkonzentriertheit oder Neugier. Salber sah die Unternehmungen, denen wir in unseren Häusern nachgehen als Bilder an. Oft sind sie damit überfrachtet, Aufgaben und Pflichten zu erledigen. Die Küche muss aufgeräumt sein bevor die anderen nach Hause kommen. Das Protokoll, der Bericht sollen fertig werden, damit man sich anderen Aufgaben zuwenden kann. Der Blick nach draußen rückt in dieser Situation etwas anderes hervor und leitet damit eine bedeutungsvolle Umzentrierung ein. Was macht dieses Eichhörnchen dort drüben, beobachtet es mich? Der Mann da unten auf der Straße scheint einen Stock verschluckt zu haben. Seltsam, wie sich das Leben ausformt! Das unter Druck geratene, seelische Unternehmen wird weitergeführt durch das, was die Welt zu sehen gibt, durch das was andere tun und lassen. Hierüber bricht ein anderes Bild auf und es ist als lockere sich auf diese Weise das Gefesselt sein durch Aufgaben und Pflichten. Es wird offenbar: bei der Tätigkeit im Hause wurde wohl einiges eingeschlossen, was über einen nach draußen wandernden Blick nun zum Ausdruck kommen kann. Der Übergang vollzieht sich mal springend, mal gestaltet sich für einige Zeit eine Art Zweispurigkeit aus. Es kann auch eine Gerichtetheit in die Welt aufkommen, bei der man paradoxerweise die Augen schließt.
Im Aus dem Fenster schauen verlieren sich die Bilder, die bis dahin das Geschehen vereinheitlichten. Aber nur, um andere Bilder zu finden, die für einige Augenblicke die Führung übernehmen. Manchmal gerät man auf diese Weise in einen Zusammenhang, der die Weiterführung des Geschehens in ganz andere Bereiche oder in ausgedehnte Träumereien verrückt. Ein Stellenwechsel findet statt, der dem Draußen einen Platz im Drinnen einräumt. Indem sich die seelischen Bilder im ‚Draußen‘ verlieren, gehen die Verwandlungen ‚drinnen‘ weiter. Vielleicht wurde die Arbeit im Zimmer gestört durch etwas, was sich auszustülpen suchte, aber keinen Anhalt dafür fand. Das andere und die anderen auf der Straße, die Spiegelungen des Sonnenlichts und der Wind in den Bäumen geben unseren stockenden Produktionsprozessen Dynamik und Farbe.
Der Blick nach draußen kann sich in einer weiteren Wendung ausformen zu einem Lauern, einer Gier und einem Verkleben mit dem anderen. Dann bekommt das Aus dem Fenster schauen etwas von ‚allmächtigem‘ Wirken. Das Bestimmt werden durch die Arbeit im Haus, dreht sich in einen Drang, andere bestimmen zu wollen: der ‚böse Blick‘ gilt als einer, der Wirkungen hat.
Text nach W. Salber (1989): Der Alltag ist nicht grau (S. 88 f.) und W. Salber (2015): “… Und was ist Nichts?” (anders – Zeitschrift für Psychologische Morphologie, 48-53)