Psychologische Morphologie


Prof. Dr. Wilhelm Salber war einer der bedeutendsten Psychologen nach Sigmund Freud. Er war dreißig Jahre Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität zu Köln. Salbers Interesse an der Philosophie von Nietzsche und der Psychoanalyse von Freud führten ihn dazu, in einer „Morphologie“, wie Goethe sie entwickelt hatte, einen Anhaltspunkt für eine entschieden psychologische Wissenschaft zu sehen. Psychologische Morphologie.

Von Anfang an war sein Konzept davon bestimmt, im Seelischen „ästhetische“ Gesetze wirksam zu sehen und nicht logische Determinationen. Das Seelische entwickelt sich nach einer „Logik der Bilder“, wie sie sich auch in den Werken der Kunst, des Films und Literatur entfaltet. Salbers Theorie und Methode haben sich in zahlreichen Gebieten wie Kulturforschung, Marktforschung, Filmpsychologie, Kunst, Psychotherapie und Musiktherapie fest etabliert.

Wilhelm Salber hat ca. 200 psychologische Arbeiten veröffentlich, davon 35 Monographien. Sein akademischer Werdegang durchlief folgende Stationen:

  • 1947 Abitur am Kaiser-Karl-Gymnasium in Aachen
  • 1948 Abschluss der Ersten Deutschen Journalistenschule, Aachen; freier Mitarbeiter und Zeichner für verschiedene Zeitungen.
  • 1949 Immatrikulation an der Universität Bonn.
  • 1952 Promotion zum Dr. phil.; wissenschaftliche Hilfskraft am Psychologischen Institut.
  • 1953 Diplom-Psychologe; wissenschaftlicher Assistent in Bonn und Erlangen.
  • ab 1956 “Motivuntersuchungen” zum Umgang mit Medien und Dingen (Benzin, Filme, Kosmetik, Kohle, Lektüre); Gutachter bei der FSK der Filmwirtschaft.
  • 1958 Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn.
  • 1959 Berufung als Professor an die Pädagogische Akademie Köln.
  • 1961 Berufung an die Universität Würzburg.
  • 1963 Direktor des neugegründeten Psychologischen Institutes II an der Universität zu Köln. Entwicklung des Konzeptes einer Psychologischen Morphologie; Erforschung von Alltag, Kunst, Kultur, Medien; von Erziehung, Werbung und Behandlung.
  • ab 1973 Begegnung mit Anna Freud; Psychoanalyse bei ihr; Reisen nach Russland auf Einladung der Akademie der Wissenschaften. Mitarbeit bei Psychologie-Sendungen im Fernsehen (“Hilferufe”); Filme über „Goya“ und “Don Quichotte”.
  • 1993 Emeritierung nach dreißig Jahren Tätigkeit als Direktor des Psychologischen Institutes der Universität zu Köln.
  • ab 1993 Beratung und Supervision; Forschungsprojekte und Medien-Untersuchungen; Supervision von Instituten für Morphologische Wirkungsforschung; Untersuchung von Entwicklungs- und Generationsproblemen.
  • ab 2009 mit anderen Herausgabe von anders – Zeitschrift für Psychologische Morphologie; intensive Beschäftigung mit morphologischer Metapsychologie, Untersuchungen zum Kruzifix, zu Caravaggio, zur Bedeutung von Witz und Komik im Seelischen.

Psychologische Morphologie ist eine Wissenschaft in Entwicklung - ein Konzept in dessen Mittelpunkt die Metamorphosen seelischer Gestalten stehen.

Es ist das ewig-gleiche Grundproblem: Wie können wir in einer sich wandelnden Welt unserem Wirken eine Lebensform geben, ein gelebtes Bild herausgestalten? Die Unruhe der seelischen Wirklichkeit sucht Gestalt zu werden und zugleich in Verwandlung zu geraten. Die sich daraus ergebende Dramatik ist der „Sinn des Lebens“.
Statt von Einzelheiten wie Reizen, Kognitionen oder Gefühlen auszugehen, nimmt die psychologische Morphologie Wirkungseinheiten zum Ausgangspunkt, deren Muster über einige Zeit hinweg Zusammenhang entwickeln. Dabei interessiert vor allem, in welchen Kategorien sich solche seelischen Gebilde selber verstehen und zu behandeln versuchen.
Die psychologische Morphologie sieht das Seelenleben als eine fließende Wirklichkeit, in der ein unbewusster Betrieb tätig ist. In ihren Untersuchungen arbeitet sie heraus, wie dieser Betrieb von Fall zu Fall funktioniert. Dabei setzt sie darauf, dass der Alltag etwas mit „bewegten“ Bildern, oder mit Kunst zu tun hat.

Das beinhaltet auch, dass die psychologische Morphologie ihren Sinn für die Poesie einer sich oft paradox gebärdenden Wirklichkeit behält, wenn sie Wissenschaft betreibt.

Die Probe einer jeden Psychologie ist der Alltag. Denn der Alltag ist das Seelische: Was die Menschen tagtäglich erleben, tun und leiden. Aber der Alltag ist zugleich das Unbekannte, das unter Vorurteilen und Zurechtmachungen Verdeckte.

Träumen, Aufwachen, Anziehen, Frühstücken, Zeitung lesen, Umgang mit Träumen, im Stau stehen, Radio hören, Smalltalk, Flirt, mit Computer arbeiten, Telefonieren, Streiten, Arztbesuch, Kochen, aus dem Fenster schauen, Schenken, Buch lesen, Fernsehen, Sich Kleiden, Ausgehen, Tanzen, Geschlechtsverkehr, Einschlafen, Träumen ...

Die Probe einer jeden Psychologie ist der Alltag. Denn der Alltag ist das Seelische: Was die Menschen tagtäglich erleben, tun und leiden. Aber der Alltag ist zugleich das Unbekannte, das unter Vorurteilen und Zurechtmachungen Verdeckte.

Das am häufigsten bemühte Vorurteil sagt, der Alltag sei grau. Aber der Alltag ist nicht grau. Die Menschen neigen dazu ihn eintönig zu machen, weil er ihnen häufig ungeheuerlich vorkommt. Das morgendliche Aufstehen erleben die einen als einen kleinen Weltuntergang, für die anderen ist er eine aufregende Weltschöpfung. Die Arbeit in einem Büro hat oft etwas von Dschungelkämpfen an sich und das Putzen der Wohnung gestaltet sich gar nicht selten wie ein Feldzug. Was sich als Alltagsunternehmen herausbildet, ist eine riskante Angelegenheit. Denn in ihm wirkt ein „Mehr“ und „Weiter“, das auf Verwandlung drängt.

Die psychologische Morphologie fragt: Wie muss die Wirklichkeit beschaffen sein, um solche Alltagsdramen hervorzubringen? Welche Einheiten binden die Entwicklung seelischen Geschehens? Wodurch werden sie zerstört oder in anderes umgebildet? In Hunderten von empirischen Untersuchungen hat die psychologische Morphologie ein Bild vom Seelischen herausgearbeitet, das dem unbewussten Betrieb des Alltags auf der Spur ist.

Der Untersuchungsgang der psychologischen Morphologie ist eine Entwicklungs-Methode, denn sie zerlegt ihren Gegenstand nicht in einzelne Elemente, sondern hält ihn als ein Ganzes fest und geht seinen Drehungen und Wendungen mittels psychologischer Beschreibung und Rekonstruktion nach.

Das geht nur, wenn man sich Zeit nimmt und sich mit der Eigenlogik der seelischen Gestalten mitbewegt. Wie gehen sie auseinander hervor? In welchen Wendungen suchen sie sich zugleich zu erhalten und zu verwandeln? Was hält sie zusammen und was kann sie zerstören?

Empirische Untersuchungen der psychologischen Morphologie beginnen mit einer ersten beschreibenden Eingrenzung ihres Gegenstandes – zum Beispiel eines Museumsbesuches. Um ein differenzierteres und psychologisch vertieftes Bild zu erhalten, werden im nächsten Schritt Tiefeninterviews mit Besuchern des Museums durchgeführt. Deren Ergebnisse werden in Beschreibungen zusammengefasst und auf Erklärungen zugeführt.

In einem Austausch zwischen Konzept und Phänomen, zwischen Beschreibung und Rekonstruktion wird verfolgt, wie sich der Gang durch das Museum aufbaut, eine Richtung findet, die als ganze durch Verwandlungen hindurchgeht – oder nicht. Das Ziel ist dabei immer, ein Bild vom Entwicklungsgang des untersuchten Gegenstands zu erhalten, das ihn selbst und seine Phänomene nicht zerstört.

Die Phänomene selbst sind die Metaphysik des Seelischen

Als „bewegliche Ordnung“ für eine Übersicht (Rekonstruktion) greift diese Psychologie Goethes Konzept einer „Morphologie“ auf. Die Phänomene und ihre Gestalten (Morphe) sind die Lehre, und diese Lehre ist „Verwandlungslehre“. Durch eine Psychologische Morphologie wird das weiterentwickelt hin auf die eigenständigen Kategorien seelischen Existierens. (Grundvoraussetzung für die Psychologische Morphologie ist einmal die Beschreibung dessen, was sich im Verhalten und Erleben sinnlich und anschaulich zeigt. Beim Kochen, am Stammtisch, beim Verführen, beim Träumen, und beim Einkaufen. Zum anderen gehört dazu, daß sie fragt, wodurch sich eine wissenschaftliche Psychologie rechtfertigt – welche Gründe und Kategorien ihr Vorgehen bestimmen. Das machen sich nämlich die meisten Psychologen überhaupt nicht klar.)

Gestalt macht Ordnung und Zusammenhang

Die Psychologische Morphologie erzählt, wie Seelisches hervorgeht aus der Unruhe der Wirklichkeit und wie Unfaßbares dabei seinen Ausdruck sucht, indem sich bedeutsame Gestalten bilden. Auf diese Weise bildet sich ein „System“ oder ein „Werk“ aus, in dem das Seelische sich und seine Verwandlungen zu verstehen, zu fassen, zu modellieren und zu entwickeln lernt. Die gestalthaften Zusammenhänge dabei hat bereits Ovid in seinen „Metamorphosen“ ins Bild gerückt.

Gestalt und Verwandlung als Spannungsfeld seelischer Produktion

Auf die Werke der Verwandlung und deren Dramatik der Ausdrucksbildung in Gestalten läuft psychologisch alles hinaus. Gegenüber den selbstverständlich gewordenen Klischees, in denen über das Seelische geredet wird, wird es hier seltsam „unvernünftig“ und paradox: Zugleich eine Gestalt halten, die sich zeigen kann, und in eine Verwandlung geraten, das ist ein Grundproblem des seelischen Lebens. Wie das Gesicht wahren und zugleich demonstrieren, daß „alles geht“? Das Unmögliche treibt uns an. Zur inhaltlichen und methodischen Leitlinie der Psychologischen Morphologie wird es daher, das Spannungsfeld zwischen Gestalt und Verwandlung aufzudecken. Welche Zusammenhänge werden hier möglich, welche Übergänge und Entwicklungen kommen ins Spiel, wie können sich bewußte und unbewußte Prozesse als Gestalten ineinander wandeln. Wie weit kann Gestalt in Verwandlung übergehen, ohne sich aufzulösen; wie weit kann Zerstörung neue Formen der Verwandlung hervorbringen.

Gestalten brechen einander in Wirkungs-Einheiten – nichts existiert isoliert

Hier stößt die Morphologie auf paradoxe „Untrennbarkeiten“ von Gestaltung und Umgestaltung, von Werden und Vergehen. Gestalten und Verwandlungen wirken nur in solchen Drehungen, Gestaltbrechungen oder Zwei-Einheiten. Die seelischen Werke und Wirkungseinheiten werden dadurch reguliert, daß Gestalten notwendig anderes brauchen und weiterentwickeln, daß Gestalt sich nur erhält indem sie sich verrücken und verwandeln muß. Nichts im Seelischen existiert „rein“, „an sich“, als isolierter Teil. Diese Zwei-Einheit überall ist die Eigenart des Seelischen selbst.

Seelische Werke werden durch Hexagramme orchestriert

Indem das Seelische sich im Werden erst zu einem besonderen “Etwas“ macht, gewinnt es seinen Boden, seine Selbsterfahrung und seine Produktionsbereitschaft als Aneignen, Einwirken, Anordnen, Ausbreiten, Ausrüsten und Umbilden. Das formt sich in der Gestalt eines Hexagramms aus, das allen Kulturen vertraut ist. Wie ein Orchester erweitern, entfalten und ergänzen sich die sechs Bedingungen dieser Figuration zu Lebensbildern und Wirkungskreisen. Weil sie ebenfalls als Zwei-Einheiten wirken, kommen immer auch universale Lebensverhältnisse (fest und beweglich, vereinigen und vervielfältigen u. ä.) ins Werk.

Menschen sind behinderte Kunstwerke

In diesen Kategorien regulieren sich die Gestalten seelischer Werke nach eigenen Beschaffenheiten und Gesetzen. Sie können sich in einer dramatischen Krise zuspitzen, wenn ständig die gleichen Gestalten wiederholt und verkehrt gehalten werden – dem gegenüber wirkt die Weiterbewegung von Gestalt und Verwandlung nach Art eines Kunstwerks. Vereinfacht kann man gegenüberstellen die Entwicklung einer Neurose (Verkehrt-Halten) und die Entwicklung eines Kunstwerks. Der Mensch ist ein behindertes Kunstwerk. Auch die von Freud entdeckten Umverwandlungen seelischer Prozesse unter bestimmten Existenzzwängen, das unbewußt Machen, lassen sich aus diesem Gestaltkonzept ableiten.

Alle Einzelheiten sind Ausdrucksbildungen von Gestaltverwandlungen

Die Psychologische Morphologie rekonstruiert in einem offenen System das Getriebe von Gestalt und Verwandlung; sie kann daher psychologische Fragen und methodisches Vorgehen konsequent und bis ins Einzelne aus dem Ganzen des Seelenbetriebs ableiten – warum Konsumprodukte etwas bringen, warum Filme wirken, warum sich Menschen in Vereinen zusammentun, worin Unternehmungen ihre Seelenkonflikte haben.

Märchen bringen paradoxe Seelenbilder in Bewegung

Auf einen Blick rücken die Märchen, die ersten und ältesten Kunstwerke menschlicher Kulturen, die Spannweite von Gestalt und Verwandlung in typische Bilder. Sie zeigen die Dramatik paradoxer seelischer Drehungen und Wendungen auf, das Wonneleid, das Tragikkomische, die Besessenheiten, aus denen Kultivierungsprozesse hervorgehen. Das zeigt deutlich, daß es eine eigene seelische Logik gibt, aus der dramatische Entwicklungen hervorgehen, die dem Seelischen zum Lebensinhalt werden. In der Bild-Logik der Märchen wird die psychästhetische Logik des Seelischen überhaupt herausgerückt. Die Märchen sind die psychästhetischen Regulationen des Seelischen. Der Alltag ist traumhaft und märchenhaft.

Kulturmorphologie als Geschichts-Werk

In den Märchen finden auch die Kulturen der Menschheit ihren gestalthaften Zusammenhang. Morphologie ist immer Kultur-Morphologie; in den Kulturen werden märchenhafte Seelenrevolutionen“ vorangetragen – wiederum paradox immer nur in konkreten geschichtlichen Ausprägungen.