Psychologische Morphologie bringt etwas für die unterschiedlichsten Bereiche des menschlichen Lebens. Ihre Theorie und ihre Methode finden Anwendung auf Kulturgeschichte, auf Prozesse in der Wirtschaft und der Produktentwicklung, auf Medien, Werbung, Kunst und Film. Auch in Entwicklungspsychologie und Psychotherapie sind viele Morphologen heute tätig.

Psychologische Morphologen arbeiten als Marktforscher und Unternehmensberater in der freien Wirtschaft. Sie sind in der Kultur- und Alltagsforschung tätig oder arbeiten mit Konzepten der Morphologie in der Psychotherapie und der Erziehung. Die Filmwirtschaft greift gerne auf die Expertise von Morphologen bei der Stoff- und Formatentwicklung zurück. Selbst in den Kunstmuseen helfen Morphologen, den Menschen die Kunst über das eigene Erleben nahezubringen.

Allen Anwendern der psychologischen Morphologie ist gemeinsam, dass sie ihre Gegenstände als komplizierte Unternehmen begreifen, die sich in der gegebenen Kultur zu verstehen und zu behandeln suchen. In ihren Untersuchungen und bei ihren Beratungsprojekten arbeiten sie nicht nur unbewusste Wirkungszusammenhänge heraus, sondern übersetzen diese auch in konkrete Handlungsschritte, Werke und Prognosen.

„Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (Kurt Lewin)

Eine Übersicht über die wichtigsten morphologischen Institute, die psychotherapeutischen Praxen, in denen Morphologen arbeiten, spiegelt das große Anwendungsspektrum dieser Forschungsrichtung wieder.


Aus der Erforschung von Wirkungsprozessen in Alltag und Kunst, aus Untersuchungen zur Entwicklung der Psychologie Sigmund Freuds ist eine eigene Form der morphologischen Psychotherapie hervorgegangen. Sie findet in der Kunst ihr Vorbild und setzt deren Mechanismen zur Intensivierung von Behandlungsprozessen ein.

In den 1970er Jahren wurde sie als „Intensivberatung“ von Wilhelm Salber und Mitarbeitern am Psychologischen Institut der Universität Köln entwickelt. In regelmäßigen Ausbildungsgängen, heute auch im Rahmen des Psychotherapeutengesetzes, wurden seitdem zahlreiche Psychologen ausgebildet. Ihnen gemeinsam ist, dass sie ihre Arbeit mit Patienten ausdrücklich nach einem Strukturkonzept von Behandlung ausrichten.

„Die einzige Macht, auf die sich eine psychologische Behandlung stützen kann, ist die Wirksamkeit des Seelischen selbst.“ (Wilhelm Salber)


Die Beschäftigung der psychologischen Morphologie mit dem Kulturbegriff entstand in Zusammenhang mit der Entwicklung von drei Forschungsrichtungen: dem Ausbau der Psychologie der Wirkungseinheiten zu einem Konzept der Selbstbehandlung des Seelischen, der Rückführung der Selbstbehandlung auf die Kulturgeschichte und der Entdeckung des Kerns der Selbstbehandlung in den Erzählmustern der Kulturen.

Mit der Entdeckung der Selbstbehandlung des Seelischen wurden komplexe Verhältnisse (Figurationen, Verwandlungsmuster) in der Kultur des Alltags, der Medien, der Wirtschaft (Produkte, Marken, Organisationen) deutlich. Die Vorbilder fand Salber in den sich wandelnden Verhältnissen der Kulturgeschichte („Seelenrevolution“), in denen solche Muster jeweils komplett gelebt werden (Objektbesetzungen/Totemismus, Patriarchat/Judentum, Ordnungsgewalt/Römer, Umkehrung aller Werte/frühes Christentum usw.). In ihren (ewigen) Erzählungen konserviert die Seelenrevolution die Problemkerne der Kultivierung. Mythen und Märchen wurden zu einer Ordnungshilfe, die den Spielraum kulturpsychologischer Phänomene mithilfe von etwa dreißig Grundmustern (zu finden in den Grimm‘schen Märchen) erzählbar macht.

Morphologische Psychologie ist in jeder ihrer Ausprägungen Kulturpsychologie, weil sie die Ausdrucksbildung des Seelischen anders als natur- oder sozialwissenschaftliche Ansätze grundsätzlich als Kultivierung versteht. Salber spricht von Kulturpsychologie aber erst in den 1980er Jahren – vordergründig im Zusammenhang mit der Gründung der  Gesellschaft für Kulturpsychologie. Weitere Informationen unter folgendem LINK.

Theodor Lessing 1925: 
Denn unsre naturlos selbstgerechte Gemeinschaft, die nicht mehr im Element gebunden ist, sondern die, wie eingemauert in Form und Kunst, blind vorüberlebt an der Gestaltenfülle der Lebensgebilde, an Pflanze, Tier, Wolke und Wind, immer wieder blickt sie, die wehmütige Meduse, in ihr eignes leiderstarrtes Antlitz.


Wirkungseinheiten, die Psychisches und Gegenständliches umfassen, sind für die psychologische Morphologie ein methodisch-theoretischer Anhaltspunkt zum Verständnis von Produkten, Märkten und Medien. Es hat sich ein neuer Ansatz der Markt- und Medienanalyse herausgebildet, der sich mit großem Erfolg neben dem quantitativ ausgerichteten Forschungsmainstream behauptet.

Morphologische Markt- und Medienforschung nimmt ganzheitliche Zusammenhänge in den Blick und geht mittels Interview und Beschreibung den wirklichen Umgangsformen der Verbraucher nach. Sie berücksichtigt neben unbewussten Wirkungen auch übergreifende Wirkungszusammenhänge der zeitgenössischen Alltagskultur. Sie untersucht das „Hinterland“, aus dem die Bewegungen des Marktes hervorgehen. Denn nur wenn dieses bekannt ist, lässt sich entschieden eingreifen und verändern.


Wenn viele Menschen zu einem gemeinsamen Werk zusammen wirken, sprechen wir von einem Unternehmen. Die gesellschaftlichen Produktions-Verhältnisse setzen vielfältige Unternehmungen in Gang, wo menschliche Produktionen als Antrieb, als Mitgestalter, Erfinder, Unterstützer des Betriebs wirken – weit über alle bewussten Organisationspläne hinaus. Von besonderem Interesse und entscheidend für das Bild der Gesamtkultur sind hierbei Wirtschaftsunternehmen.

Allerdings können gerade bei diesen menschliche Verhältnisse auch zum Störenfried werden, der Widerstände erzeugt, unbewusste Sinnbildungen verselbständigt und als Feind der Unternehmensziele wirkt. Wie das Ganze zusammenhängt, was sich da insgeheim abspielt, welche Paradoxien Staunen erregen: damit beschäftigt sich die psychologische Morphologie  – weil es für die Existenz der Unternehmen lebenswichtig ist.

“I think now, looking back, we did not fight the enemy, we fought ourselves and the enemy was in us.“ (Platoon, 1986)


Für die psychologische Morphologie ist die Kunst ein „Königsweg“, Seelisches zu begreifen. Denn für die Psyche gelten nicht rationale oder mathematische, sondern ästhetische Gesetze. Die Beschreibung von Kunstwerken führt daher direkt zu Einsichten in die Konstruktionsprobleme seelischer Unternehmungen.

Die Psychologie erschließt sich im Austausch mit der Kunst einen anderen Blick auf die Wirklichkeit. Aber auch die Kunst hat von der Psychologie einen Nutzen. Denn morphologische Kunstpsychologie zeichnet die Wandlungen auf, denen der Umgang mit Kunst folgt. Damit werden Formenbildungen sichtbar, die wir immer schon gehen, die wir uns aber ohne die Kunst niemals so anschaulich vor Augen stellen können. Von Wilhelm Salber liegen Werkuntersuchungen zahlreicher Künstler vor: Saul Steinberg (1974), Wolf Vostell (1977), Karl Junker (1978), Edward Hopper (1992), Francisco Goya (1994), Michelangelo Merisi da Caravaggio (2011). Morphologen bieten in Museen Führungen an, die sich auf das Erleben der ausgestellten Bilder konzentrieren.

„Für Kunst braucht man einen Stuhl.“ (Paul Klee)


Schon sehr früh hat die psychologische Morphologie den Film als einen „Kollegen“ entdeckt. Denn ähnlich wie ihre Alltagsuntersuchungen dringen Filme in die Konstruktionsprobleme der Wirklichkeit ein und machen sie im Originaltempo nachvollziehbar. Während die Morphologie Filmwirkung zunächst als „Komplexentwicklung“ auffasste, ist sie in den vergangenen Jahren mehr und mehr dazu übergegangen, mythische Drehpunkte als deren strukturierenden Kern herauszustellen.

Seit den 1960er Jahren werden Filmwirkungsanalysen durchgeführt und veröffentlicht. Wilhelm Salber schaltete sich damals mit einer viel beachteten Arbeit in die Diskussion über den Skandalfilm Das Schweigen ein. Seit den 1980er Jahren werden Filme von Morphologen mit den Strömungen der zeitgenössischen Alltagskultur in Austausch gebracht. Sie werden als ein „Spiegel“ gesehen, in dem sich Selbstbehandlungen der Kultur zum Ausdruck bringen und erproben. Morphologen sind heute in der Filmbranche beratend tätig und führen einen lebendigen Austausch mit Vertretern der stetig gewachsenen Filmpsychoanalyse.

„Der Kinofilm … setzt die Zuschauer physisch und ‚metaphysisch‘ seiner eigenen audiovisuellen Bewegung aus, die in einen Angriff auf ihr leiblich-seelisches Gleichgewicht münden kann.“ (Martin Seel)