Wenn auch die Auferstehung des Gekreuzigten zu Ostern für die christliche Glaubensgemeinschaft als das wichtigste Fest des Jahres gilt, werden die Weihnachtstage, die an Christi Geburt in Bethlehem erinnern, von den meisten doch als das Fest der Herzen erlebt. Die Zusammenkunft der Familie neben dem Weihnachtsbaum, das gemeinsame Singen, Essen und Beschenken gelten seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts als ein festlicher Höhepunkt des Jahres.Wir haben an dieser Stelle mehrmals an die psychologische Untersuchung Werner Wagners "Es begibt sich jedes Jahr - Zur Psychopathologie des Weihnachtsfestes"  zum tatsächlichen Erleben von Weihnachten erinnert. Heute wollen wir die Weihnachtszeit als Anlass nehmen, auf eine bisher kaum bemerkte Reihe von Wilhelm Salbers Untersuchungen zur Christlichen Kunst in der Zeitschrift anders hinzuweisen. (Text von Dirk Blothner)

Salber reiste gerne zu den Kunstschätzen im französischen Burgund. Besonders angetan war er von der romanischen Basilika St. Magdalena in Vezelay und ihren Kapitellen. Kapitelle sind Bildhauerarbeiten auf dem oberen Abschluss einer Säule oder eines Pfeilers. In den Arbeiten “Steine reden – steinerne Gestalten” (anders 8/2011 – PDF), Steine reden – Romanische Kapitelle I (anders 9/2012PDF) und  “Steine reden – Romanische Kapitelle II (anders 10/2012 – PDF) legt Salber dar, inwiefern der Kirchgang inmitten dieser Skulpturen das Potential hat, zur Kunsterfahrung über die Wirkwelt des Menschlichen zu werden. Womit er zugleich aufzeigt, wie die romanischen Kirchen das Seelenleben der Kirchgänger zu formen suchten. Denn die Kapitelle und die Architektur der Gotteshäuser trugen dazu bei, die christliche Kultur als ein Bild zu etablieren, nach denen die Menschen leben können. Wie so oft macht Salbers zutiefst ungewöhnlicher Blick damit auf etwas aufmerksam, was man kaum für möglich hält: eine Art mediale “Seelenmassage” (McLuhan) schon zur Zeit der Romanik (950 bis 1250 nach Christus).

Man muss sich deutlich machen, dass die Kirchen im Mittelalter außergewöhnlich große Gebäude waren, von denen sich die Menschen enorm beeindrucken ließen. Jedes Mal wenn sie die Messe besuchten, durchliefen sie ein Nacheinander, dessen Durchgliederung und Aufbau ein Bild von Wirklichkeit herausgestaltete und in ihrer Psyche allmählich verankerte. In den Gliederungen des Kirchengebäudes, in den dort exponierten Kunstwerken fanden sie zum einen Antworten auf drängende Nöte und Fragen. Zum anderen aber formte sich dabei – jedes Mal aufs Neue – eine, ihre Psyche gliedernde Wirkungseinheit heraus.

Die Basilika St. Magdalena in Vezelay (ca. 1150)

In der auf einem kleinen Berg gelegenen, romanischen Kirche St. Magdalena im französischen Vezelay kamen die Menschen des Mittelalters zunächst in einen großen rechteckigen Raum mit Säulen und Palmen. Salber meint, er erinnere an das verlorene Paradies. In dem Raum befinden sich zwei Portale. Über ihnen die steinerne Darstellung eines Jüngsten Gerichts. Von dort aus wurden sie in die Kirche hineingezogen, gleichsam unter dem Blick des Weltgerichts. Manch einer wird sich gefragt haben, wie seine Handlungen im Alltag von diesem >Gericht< bewertet und bewogen werden. Es geht um die Abschätzung, ob etwas zu viel oder zu wenig ist. Ist meine Gier so stark, dass sie mich schon auszuhöhlen beginnt? Ist andererseits meine Neugier so schwach, so dass ich mich zu nichts mehr aufraffen möchte? Kann ich meine berechtigte Wut in einer Art und Weise handhaben, dass ich nicht selbst auch ungerecht werde? Die Kultivierung des Seelischen über das Christliche Bauwerk setzt an alltäglichen Impulsen und Handlungen an. Sie bringt sich in einer Vergegenwärtigung der Suche nach Maß zur Geltung.

Eingangshalle Basilika Vezelay

Wenn sie das Portal durchschreiten, kommen die Kirchgänger in ein sie gleichsam aufsaugendes Werk. Eine große, breite Achse in der Mitte und zwei Seiten-Schiffe. In der Ferne, am anderen Ende ein Leuchten. „Ein Rund im Licht, mit hellen (Palmen-)Säulen, durchlässig, offen und geschlossen zugleich.“ (anders 8/2011, 15) Die Durchgänge dort hin sind gestaltet durch bunte Decken-Gurte, Bögen, die den hohen Raum abrunden. Der Gang nach vorne wird zugleich gebrochen und geführt durch Kapitelle. Sie sind inhaltliche Markierungen auf dem Weg zum hellen Oval. Als gerieten sie in eine Mausefalle, sind die Kirchgänger eingefangen in einen großen Kreis vielschichtiger Wirklichkeit. Ein ganzheitlicher Zusammenhang formt sich über das Gebäude aus und wird zugleich als ein solcher verspürt. Das Seelenleben findet darüber eine rhythmische Durchformung, gerät zwischen Kontinuität und Wandel, bekommt eine Ahnung von konsequenter Weiterführung. Welche Urphänomene dabei im Einzelnen durchschritten werden kommt durch die in im nächsten Abschnitt beschriebenen Bilder aus Stein ins Spiel: Kapitelle.

Mittelschiff der Basilika Vezelay

Kapitelle in St. Magdalena in Vezelay

Im Mittelalter hatte die Kultur keine überall verfügbaren Medien, über die sie die Seele der Menschen bewegen konnte. Aber sie hatte die Baukunst, die Kunst der Steinmetze, die sich im Falle der Kirche von Vezelay zu einem bewegenden Gesamtkunstwerk vereinten. Bei jedem Kirchgang aufs Neue gestaltete sich im Nacheinander ein gelebter Sinnzusammenhang heraus. Der Gang durch die Kirche stellte vor Augen, was in der Wirklichkeit bedeutsam ist. Die seelische Unruhe der Kirchgänger wurden geformt von den gemeißelten Szenen auf den Säulen. Es sind Gestaltkomplexe, in die sie schon geraten, weil sie Menschen sind. So wie es die Skulpturen auf den Säulen zeigen, so geht psychische Verwandlung vor sich.

Seine Bewegungen begrenzen

Salber geht auf Kapitelle mit Bewegungen ein, die von sie umfassenden Formen begrenzt sind. Wie bei der oben erwähnten Frage nach dem Maß des Fühlens und Handelns, bildet sich über sie der Eindruck von abgemessenen Lebensäußerungen aus. Sie weisen auf die Notwendigkeit einer Durchformung, einer Kultivierung der seelischen Unruhe hin. Die Menschen konnten damals mit einem Blick nach oben den Effekt solcher Ergänzungen unmittelbar erleben. (anders 10/2012, 21)

Einordnen in Oben und Unten

Andere Kapitelle forderten ihre Betrachter dazu auf, sich selbst in einem universalen Auf und Ab, Hin und Her der Wirklichkeit zu orten und zu verstehen. Welche Figur liegt oben, welche unten? Und was passiert, wenn sich das Ganze dreht? Was ist meine Position im sozialen Gefüge? Wo möchte ich mich im Lebensganzen positionieren? Ganz oben, in der Mitte, ganz unten? Das individuelle Leben sucht seinen Platz im Ganzen. (ibd. 23)

Salber hebt auch eine Figurengruppe, vermutlich mit Samson, heraus, der auf einem Löwen reitet. Sah vielleicht der eine oder die andere darin die Grundform des Lebens, die mit Aufsitzen, mit Überwältigen zu tun hat? Die Wirklichkeit bringt solche Urphänomene hervor. Vielleicht wurde das Kapitell für einen anderen gar „zum mutigen Ritt des Lebens auf der wirren Wirklichkeit“? (anders 8/2011, 19) Eine exaltierte Stundenwelt, die uns Menschen mitzureißen versteht.

 

Ritt auf der wirren Wirklichkeit

Ein viertes Kapitell zeigt eine Enthauptung (Salber meint von Johannes dem Täufer) und macht mit seiner Gestaltung auf eine Verwobenheit von Opfer und Täter aufmerksam. In der psychischen Wirkwelt greifen Tun und Leiden ineinander. So wie der Henker im Rahmen einer Kreisform nach dem Kopf des Verurteilten greift und der Hinzurichtende sich an das Gewand des Henkers klammert. Das Kapitell zeigt Grundverhältnisse, die wir nicht vermeiden können. An diesem Bildnis finden die Menschen, wenn sie solche schwer zu akzeptierenden Ergänzungen in sich verspüren, eine anschauliche Bestätigung.

>Ineinandergreifen< von Tun und Leiden

 

„Die Steingestalten sagen mehr, sie zeigen das Oben und Unten dieser Welt, was sich da gegeneinanderstellt, bekämpft und zerstört, was heil und ganz macht, was Erlösung verspricht und was mit Verdammnis droht. Hier ist alles in einem Ganzen da, was in der Wirklichkeit vor sich geht und was den Kirch-Gängern der christliche Glauben sagt…“ (ibd. 17)

Verdrängtes Bild der seelischen Wirkwelt

So bewegen sich die Menschen, aus dem paradiesähnlichen Vorraum kommend, Schritt für Schritt auf ein zweites und sehr viel helleres, ein wiedergefundenes ‘Paradies’ zu. Das gleißende Licht im Altarraum verheißt ihnen Verwandlung. Man weiß es nicht. Aber man ahnt über Salbers Beschreibungen, wie sich die Seele des Mittelalters über diese Werke der Kunst zu einem Gang durch die spannungsvolle, irdische Wirklichkeit ausformte, hin zum Licht der Erlösung. Man kann die aufstörende Orientierung verspüren, die die Menschen in diesen sie aufnehmenden, steinernen Werken fanden. Das nach Formen suchende Seelenleben konnte sich in der Basilika von Vezelay und den in ihr exponierten Bildern eine gegliederte Gestalt geben. Und zwar eine Gestalt, die es verstand, dem als unruhig, wirr und sinnlos erlebten Alltag eine, wenngleich nicht verfügbare, aber doch universal wirksame Ordnung zu geben.

Ein Entwurf einer spannungsvollen und doch in sich zusammenhängenden, einer sich selbst begrenzenden, seelischen Wirkwelt, der allerdings in den folgenden Jahrhunderten in der Kirchenkunst in den Hintergrund rückte. Somit laufen Salbers Anmerkungen zu den romanischen Kapitellen auf eine überraschende These, ja einen Clou zu. Er meint, die kirchliche Kunst der Romanik sei sehr nahe an ein psychologisches Wirklichkeitsbild herangekommen. Aber dieses Bild sei über die Jahrhunderte danach einer kollektiven Verdrängung erlegen. Insbesondere die zeitgenössische “Auskuppelkultur” mit ihrer Parole “Nichts ist unmöglich!”, mit ihrem Zwang, beinahe alles umzusetzen, was sich die Menschen ausdenken können, beteilige sich an dieser Abwehr.

Ja, die alten Steine in den romanischen Kirchen Frankreichs können reden. Sie sagen uns modernen Menschen: “Erinnert Euch, so ist die Wirklichkeit!” Und Salber erkennt in ihnen so etwas wie den “Ausgangspunkt des unbehauenen Ecksteins” (anders 10/2012, 26) für eine neue Formenbildung unserer Kultur.

Die Seele gestaltende >Mausefalle< mit einem Versprechen auf Verwandlung