Am 29. Oktober 2023 verstarb bei Köln unser Kollege Dr. Rolf Dellen (geboren am 20. 11. 1941). Er war lange Zeit Mitarbeiter an dem von Wilhelm Salber bis 1993 geleiteten Psychologischen Institut an der Universität zu Köln. Dr. Norbert Endres hat zu diesem Anlass einen Nachruf verfasst und würdigt in diesem Zusammenhang insbesondere die berühmte Arbeit Dellens über den "kleinen Gregor".

Rolf Dellen – Psychologe mit Leib und Seele

Unvergessen bleibt sein Aufsatz “Der kleine Gregor – ein Fall nicht nur für den Mediziner?” (Zwischenschritte 1, 1984, 37-45) In sehr berührender Weise stellt er die Geschichte und die Hintergründe der Behandlung eines dreijährigen Jungen dar, dem nach einem grässlichen Unfall bei seiner Einlieferung ins Krankenhaus nur ein Weiterleben mit schwersten Behinderungen bestimmt zu sein schien.

Der Text von Rolf Dellen mutet dem Leser viel zu. Zunächst einmal die kaum auszuhaltende Aufzählung der schweren Organverletzungen des Kindes wie sie in brutaler Konkretheit die medizinische Krankenakte dokumentierte. Dann die lähmende Hilflosigkeit des Chirurgen, der die lebensrettende Erstoperation von Gregor in seinem Landkrankenhaus durchgeführt hatte und nun den Jungen wieder nach der Intensivbehandlung in der Neurochirurgie der Uniklinik zur weiteren Versorgung überwiesen bekam. Eine Hilflosigkeit, gegen deren Macht sich auch der zu Rate gezogene befreundete Psychologe R. Dellen beim Anblick des kleinen, in einem vergitterten Bett durch eine Reihe von Schläuchen mit mehreren Apparaten verbundenen Jungen nur schwer wehren konnte. Kann man einem so „regungslos, bewegungslos“ daliegenden Kind , „die Augen starr auf einen fernen Punkt gerichtet,“ überhaupt helfen und vor schlimmer Hospitalisierung bewahren?

Dass das möglich wurde und Gregor heute ohne Behinderungen leben kann, hat entscheidend mit dem damaligen Einsatz von R. Dellen zu tun. Wie in einem Spiegel zeigen sich darin viele der Züge, die ihn als Kollegen im Psychologischen Institut II der Universität zu Köln und darüber hinaus als Freund so wertvoll gemacht haben. Er lief nicht weg, er stellte sich der Situation – mit Empathie, aber auch mit kritischem Blick und hoher Risikobereitschaft.

Als Schüler der Psychologischen Psychologie von Wilhelm Salber hatte er gelernt, das Seelische als einen autonomen Gegenstand zu verstehen und daraus einen vom medizinischen Vorgehen grundlegend verschiedenen Behandlungsauftrag abzuleiten. Daran hielt er fest und begann methodisch erst einmal zu beschreiben, so wie er es den Studierenden in seinen regelmäßigen Seminaren zur ‚Beschreibung‘ in vielen Semestern beigebracht hatte. Er vertraute dem Erkenntnisversprechen dieser Methode auch jetzt in einem Fall, in dem es zunächst fast nichts anderes zu beschreiben gab als vereinzelte (Fuß- u.a.)-Bewegungen eines sonst erschreckend apathischen ‚Körpers‘.
Der Gewinn stellte sich dann auch ein, allein schon im bewusster werdenden Verständnis für die fürchterliche Erlebenswirklichkeit des kleinen Gregor: sein mutmaßliches Erschrecken beim mit dem Aufwachen verbundenen Anblick der vielen Schläuche und seine Angst vor der fremden sterilen Umgebung, in der vor allem Menschen in weißen Kitteln hantierten, ihn mit Nadeln ‚stachen‘ u.a. – für den aus bäuerlicher Umgebung stammenden Jungen bestimmt eine Horrorwelt.

Wie sollte es gelingen, Gregor aus dieser bedrohlichen „LEM-Welt“ heraus zu holen und von seinem Schockzustand zu befreien? Ohne das unbedingte Vertrauen in das Eigenrecht und die Macht psychologischer Behandlung ging das nicht. Noch weniger ohne einen radikalen methodischen Stellungswechsel: Mit vollem Risiko und mit großem zeitlichen wie auch persönlichem Einsatz erreichte R. Dellen, dass die unnatürliche Krankenhauswelt radikal umgewandelt wurde in eine dem kleinen Gregor von zuhause her vertraute ‚Knollenwelt“ mit ganz eigenen Abläufen, bis hin zum Einzug der 21jährigen Schwester als ‚Co-Therapeutin‘ in das Zimmer des Kleinen auf längere Zeit.

Nach einem langen und erfolgreichen Berufsleben ist Rolf Dellen vor kurzem an seiner Krebserkrankung gestorben. Mit der Entwicklung der Morphologischen Psychologie in Köln war er über viele Jahre als Mitarbeiter von W. Salber am Psychologischen Institut II der Universität sehr engagiert verbunden gewesen, man kann sagen fast von Anfang an. Das neue Denken Salbers hatte auch ihn gefesselt. Und die damit verbundene, besonders um ein Verstehen scheinbar selbstverständlicher Alltagsphänomene bemühte Forschungsrichtung ist seiner kritischen Neugier sehr entgegen gekommen, auch seiner Verwandlungslust im Anderswerden. Der Alltag war auch für ihn alles andere als grau. Den Befunden und Analysen dieser Psychologie als Grundlage für Entscheidungen in Politik und Gesellschaft hat er viel zugetraut. In seiner Dissertation „Studieren als Lebensform“ oder in den verschiedenen Untersuchungen, die er für die ‚Bundesanstalt für  Straßenwesen‘ mit dem DelBerg-Institut in seinen frühen Berufsjahren durchgeführt hat, kann man das gut erkennen.

Ich habe in Rolf Dellen über den anregenden klugen Kollegen hinaus, mit dem mich einige gemeinsame Veranstaltungen verbunden haben, auch einen zuverlässigen lebensfrohen Freund gefunden. Nach seinem Ausscheiden aus dem Institut und mit seiner Niederlassung als Psychoanalytiker in freier Praxis vor gut drei Jahrzehnten sind unsere Begegnungen zwar seltener geworden. Das freundschaftliche Gespräch mit ihm ist aber nie abgebrochen. Jetzt wird es anders weitergehen. Bestimmt auch für die vielen PatientInnen, die in seiner Praxis Hilfe gefunden haben. Traurig, zugleich voller dankbarer Erinnerungen.

Norbert Endres

Dr. Rolf Dellen