Wilhelm Salber zeichnete gerne. Viele seiner Zeichnungen sind Versuche, die psychische Wirkwelt mit karikierenden Strichen festzuhalten und auf diese Weise sichtbar zu machen.  In Ergänzung zu dem, auf dieser Website voranstehenden, Text zur Kirchenkunst der Romanik, machen wir hier auf eine Zeichnung aufmerksam, mit der Salber auf einen Blick das Erleben von kirchlicher Baukunst - oder anderen Ausstellungskomplexen - als Wirkungseinheit anschaulich darstellte. (Text von Dirk Blothner)

Der psychische Zusammenhang, den diese Zeichnung darstellt, folgt der Form einer Spirale. Es fängt links unten in einer beschaulichen Dorflandschaft an. Der begrenzte Ort, an dem die Menschen leben. Von dort aus bewegt er sich auf die rechte untere Seite. Dort ist eine kleine Dorfkirche angedeutet.  Von den Menschen tausend Mal gesehen, hundert Mal besucht. Aber nicht zu einem Kunsterleben gesteigert.

Nun geht es über die vertrauten Formen des Alltags hinaus. Es wird fantastisch: Mit Hilfe der Kraft eines fliegenden Wesens – die Verwandlungen in Gang setzende Kraft der Kunst? – wird ein älteres Paar aus diesem Lebenszusammenhang heraus- oder emporgehoben. Kunst erschließt sich demjenigen, der bereit ist, sich im Verweilen auf sie einzulassen. Daher sitzt das Paar auf der Bank. Die Frau hält eine Blume in der Hand. Sie ist daran gewöhnt, Schöpfungen ihres Gartens zu betrachten. Den Prozess des Sich-Einlassens deuten die Platten hinter der Bank an, die das Aufsteigen der Spirale weiterführen.

Diese macht mit der Bank einen Schwung nach rechts und wird wieder aufgegriffen von der schräg nach oben führenden Horizontlinie. Diese letzte Wendung wird durch eine große Kirche gebrochen. Vielleicht eine Basilika. Über die Bewegung der Spirale ist sie mit dem Ort des Lebens ganz unten links verbunden. Vermittelt durch Bank und beschreibende Haltung gehen die unbemerkten Lebensprozesse über in das Kunstwerk und kommen darüber zu sich selbst. So kann man das Erleben von Kirchenkunst als Wirkungseinheit darstellen. Man hat damit freilich noch nicht die Wendungen eines konkreten Kunsterlebens beschrieben. Das macht der erwähnte Text zu der Basilika in Vezelay auf dieser Homepage.

In dem Text “Kunstpsychologie – Ausstellungskomplexe” (anders 25/2016, 39-47), aus dem die Zeichnung entnommen ist, untersucht Salber also nicht den Erlebensprozesse in einer bestimmten Kirche. Er hat hier die Wirkungseinheit “Ausstellungskomplex” allgemein im Blick. Indem er die Teile der Zeichnung mit einer Spirale verbindet und zueinander in Beziehung setzt, macht er deutlich, dass es sich beim Erleben eines großen Kunstwerkes um einen  Wirkungszusammenhang handelt. Mit Gegenständen und Figuren baut die Zeichnung ihn symbolisch nach. Wenn wir zum Beispiel durch eine romanisch gestaltete Kirche gehen, können mitgebrachte Fragen des Alltags (links unten) einen Halt in dem ausgestalteten Gebäude, seinen Skulpturen und Bildern (rechts oben) finden. Dazwischen bildet sich ein seelischer Prozess aus, der sich auf die Wirklichkeit von Natur und Kunst einlässt. Im Hin und Her, in Anklängen einer erlebten Dramatik, die dabei aufkommen, in irritierenden Störungen formt sich der bewegende Komplex des Kunsterlebens heraus. Nur methodisch beschreibend kann man ihn rekonstruieren – oder seine Komponenten in einer Zeichnung anschaulich andeuten.

Die fantastische Anordnung von Dorf, Fliegend-Stützende, Bank, Menschen, Blume, Kirche und durchgehenden Linien macht anschaulich sichtbar, dass bei einem solch komplexen Vorgang wie “Kunsterleben” Unterschiedliches zusammenwirkt. Und sich doch in eine vereinheitlichende Figur einordnet. Der Schwung der Spirale, der von unten nach oben zieht, lässt spürbar werden, dass uns die Kunst – obwohl sie den Alltag aufgreift – auch immer ein Stück über ihn hinauszuführen sucht. Kommen wir dabei bis zu einer Art “Konstruktionserfahrung” (W. Salber), finden wir einen anderen, einen vertiefenden Blick auf das Leben.

Salbers Zeichnung transformiert das Kunsterleben in eine komisch anmutende, karikierende Zeichnung. Aber auf diese Weise macht er einen komplexen Wirkungszusammenhang sichtbar.