In unregelmäßigen Abständen präsentieren wir an dieser Stelle einen Text aus anders – Zeitschrift für Psychologische Morphologie. Er wird nur wenige Wochen online sein. Auf einem weiteren Höhepunkt der Corona-Pandemie  – es ist der 6. Januar 2021 – wollen wir an einen Text erinnern, der die menschliche Kunst des Überlebens an einer wahren Geschichte herausarbeitet. Es ist die Kolumne von Wolfram Domke “Überleben – Selbsterhaltungstrieb oder märchenhafte Metamorphose”” aus anders 6/2011. Die Zeichnungen im Text sind von Wilhelm Salber.

Wolfram Domke

Überleben – Selbsterhaltungstrieb oder märchenhafte Metamorphose?

Immer wieder gibt es dramatische Überlebensgeschichten, die Menschen überall mit wachsender Anteilnahme verfolgen. Existenzielle Schicksale, kaum für möglich gehaltene Leistungen menschlicher Selbsterhaltung angesichts widrigster Lebensumstände – das zieht uns offenbar an. Doch aus psychologischer Sicht stellt sich die Frage, was diese im Alltag so ungebrochen als gegeben angesehene ‚Selbsterhaltung‘ eigentlich ist. Das klingt immer so, als verfügten wir hier über eine fest installierte, im Notfall nur noch zu aktivierende ‚Fertigkeit‘ zur Rettung in eigener Sache. Doch die Phänomene sind nicht so eindeutig, weder bewahrend noch so fest determiniert, und schon gar nicht so fertig wie es der angenommene ‚Selbsterhaltungstrieb‘ nahelegt. Bei näherem Hinsehen zeigen sich hier beunruhigende Widersprüche und erstaunliche Gegenläufe. Eine alte Überlebensgeschichte, die sich vor fast 40 Jahren in Chile zutrug, macht dies besonders deutlich. Die Geschichte handelt vom Absturz eines Flugzeuges in den südamerikanischen Anden. An Bord war eine uruguayische Rugby-Mannschaft nebst Verwandten und Freunden auf dem Weg von Montevideo zu Auswärtsspielen in Santiago de Chile; zusammen mit der Besatzung insgesamt 45 Personen.

Man hielt alle Passagiere längst für tot, als 70 Tage nach dem Absturz zwei Überlebende in einem chilenischen Tal auftauchten, die die Rettungsmannschaften dann zu 14 weiteren lebenden Menschen beim Flugzeugwrack in den Bergen führen konnten. Da dies am Tag vor Heilig Abend geschah, sprach die dankbar gerührte Öffentlichkeit von einem „Weihnachtswunder“. Nach wenigen Tagen schlug die öffentliche Hochstimmung aber drastisch um, als bekannt wurde, wie man im ewigen Schnee auf 4000 m Höhe bei nächtlichen Temperaturen unter minus 30 Grad und ohne nennenswerte Lebensmittelvorräte überhaupt hatte über- leben können. Nicht durch den Verzehr von Kaninchen und Bergkräutern – wie man in romantisierender Verklärung gern glauben wollte – sondern nur durch das Essen vom Fleisch der toten Menschen. Die eben noch gefeierten Helden standen plötzlich als abscheuliche Menschenfresser da. Mit einem solch anrüchigen Überleben wollten viele nun nichts mehr zu tun haben.

Seltsam anders war die Verfassung der Überlebenden selbst. Im Krankenhaus, in das sie sofort eingeliefert wurden, riefen sie zuerst nach einem Pater, denn es drängte die gläubigen Katholiken zur Beichte. Nach der Absolution äußerte sich ein Geretteter – ganz im Sinne auch der anderen – folgendermaßen: „Niemand kann sich vorstellen, wie es war. Da oben aber, wo ich so viele Wunder erlebte, so nahe bei Gott war, dass ich ihn fast berühren konnte, da habe ich mich verändert. Jetzt bitte ich Gott, er möge mir die Kraft verleihen, nicht wieder zu dem zu werden, der ich früher war“. (P. P. Read) Das war Schuld und Rausch zugleich! Sie hatten sich alle vom Fleisch der Toten ernährt. Daraus machten sie keinen Hehl, aber auch nicht aus der erlebten Gottesnähe; sie schämten sich für die herumliegenden Menschenknochen und waren zugleich eigentümlich beseelt von Nächstenliebe; sie hatten ihr Leben zäh erhalten und fühlten sich zugleich wundersam verändert – wie passen solche Gegenläufe zusammen? Sie passen zusammen, wenn man die Wirklichkeit – auch des Überlebens – in den Kategorien einer paradoxen und märchenhaften Metamorphose betrachtet. Alle Märchen handeln von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten seelischen Lebens in einem bestimmten Spannungsfeld der Wirklichkeit. Sie stellen dies sogar häufig daran dar, dass Gestalten andere Gestalten fressen: das können Wölfe und Geißlein, Riesen und Däumlinge sein, oder Hexen und Kinder wie bei Hänsel und Gretel. Mit Hilfe dieses Märchens soll nun auch die Binnenstruktur der hier behandelten Überlebensgeschichte kurz skizziert werden.

Die immanente Grundspannung des Märchens von Hänsel und Gretel lässt sich in grober Vereinfachung durch die Pole von Haus und Weg kennzeichnen. Das Haus gibt seelischen Entwicklungen eine feste, versorgende, liebende Gestalt mit eigenem Anhalt und Rückhalt, während der Weg sie beweglich macht, öffnet für Anderes (Feuer und Wasser) und auf Reisen bringt. Dazwischen ereignet sich das Wesentliche: Beide Seiten kommen zusammen im Verwandlungsmoment einer Wiederkehr, die sich „sowohl in Richtung von Tod und Konservierung bewegen kann als auch in Richtung einer Herausforderung von Neuem“ (Salber; Märchenanalyse). Der Flugzeugabsturz macht zunächst die Risiken jeden Weges deutlich: Gestalten auf Reisen können ‚Navigationsfehler‘ machen, ihre Orientierung verlieren und an vermeintlich bereits überwundenen Hindernissen zerschellen. Das Heck des Flugzeuges und seine Tragflächen brechen bei Kollisionen mit Bergkanten ab, der vordere Teil der Maschine fliegt noch ein Stück weiter und landet schließlich hart auf einem verschneiten Hochplateau.

Für die Hälfte der Passagiere ist der Weg damit zu Ende, sie sind bereits tot oder sterben an ihren Verletzungen in den nächsten Stunden und Tagen. Für die andere Hälfte wird der Rumpf des Flugzeugs nun zum Überlebenshaus. Nur hier gibt es Schutz vor der extremen Lebensfeindlichkeit der sie umgebenden Eiswüste. Zumindest am Anfang gibt es hier drinnen auch noch Reste von Essbarem, die jedoch trotz strengster Rationierung bald aufgebraucht sind. Man lebt am meisten von der Hoffnung auf baldige Rettung von draußen. Fast alle sind studierte und auch verwöhnte Söhne ‚aus gutem Hause‘; in stundenlangen Tagträumen malen sie sich tröstend aus, wie sie bald dorthin zurückkehren werden.

Nach etwa drei (!) Wochen steht aber fest, dass diese Rettung nicht kommen wird. Ungläubig vernimmt man am schwach empfangenden Transistorradio die Meldung von der Einstellung der Suche. Bei den Hungernden und zunehmend Entkräfteten kommen nun zwei ‚unmögliche‘ Bilder auf, erst noch still, und dann doch laut ausgesprochen: Das Fleisch der Toten essen und sich selbst auf den Weg machen. Beides er- fordert das Durchbrechen bestehender Drehgrenzen: das eine mehr nach drinnen, zum tabuisierten Aufzehren des Eigenen (die Toten sind die eigenen Freunde, Geschwister, Mütter, Partner); das andere mehr nach draußen, zum lebensgefährlichen Aufsuchen von Anderem. Eine Zeit lang kämpfen diese Richtungen gegen erhebliche innere Widerstände, bis ein weiteres Ereignis zu einer tragischen Entwicklungshilfe wird. Eine nächtliche Lawine verschüttet den Flugzeugsrumpf und begräbt die darin Schlafenden unter sich. Für acht weitere Menschen wird das Überlebenshaus so zur tödlichen Falle. Nun wird es für den Rest leichter, den Aufbruch zu wagen und sich auch in der Nahrungsfrage zu überwinden. Eine Expedition von drei Männern – so gut ausgerüstet wie es unter den Umständen nur geht – soll das Heck der Maschine finden, die Batterie darin bergen, zum Funkgerät im Flugzeugrumpf zurückbringen, um damit selbst Hilferufe senden zu können. Man geht nun also tatsächlich neue Wege, aber ein Teil bleibt wie im Märchen zurück, und auch bei den Weggehenden ist alles auf eine baldige Wiederkehr ausgerichtet.

Nach zwei mühsam langsamen Tagesmärschen und einer stets von Erfrierung bedrohten Nacht im Freien, erreichen sie das abgebrochene Heck. Hier liegen noch viele Koffer, in denen sie jubelnd warme Kleidung, Schokolade, Kekse und Zigarettenstangen finden. So wird das Heck zum verlockenden ‚Hexenhaus‘, das sie zu langem, satt machendem Bleiben einlädt. Sie fressen das Haus leer, doch umgekehrt droht das Haus sie durch ihr Verweilen zu fressen. Das Funkgerät bleibt stumm. Die weitere Entwicklung ist wieder einmal oder noch immer auf sich selbst gestellt. Nun erst kann der Schritt ins Offene, Unbekannte wirklich gewagt werden: aus eigener Kraft nach Chile gehen. Man weiß nicht, wo man genau ist, aber man weiß, Chile liegt im Westen, jenseits der Anden. Vor ihnen erhebt sich ein Berg, der den Zugang zu Tälern in Richtung Westen versperrt. Ist dieses Hindernis einmal überwunden – so die Hoffnung – müsste eine rettende Gegend erreichbar sein. Wieder wird eine Dreiergruppe bestimmt und eine Zeit lang – gegen den Futterneid der anderen – für den anstehenden Weg regelrecht gemästet.

Die Expedition startet. Der Aufstieg ist schwer und zwingt immer wieder zu riskanten Schritten. Kurz vor Erreichen des Gipfels gibt einer der drei erschöpft auf und schafft es mit letzter Kraft zum Flugzeug zurück. Oben auf dem Gipfel bietet sich den beiden anderen ein niederschmetterndes Bild: statt der erwarteten grünen Täler sind bis zum Horizont nur weitere Berge zu erkennen. Als würden sich die Märchenfigurationen in den beiden Männern nun verkörpern, will der eine enttäuscht zurück, während der andere unverdrossen nach vorne sieht. An einer entfernt-verheißungsvollen Stelle meint er Berge ohne Schnee auszumachen. Dahin geht es schließlich zusammen weiter. Einem Tal folgend erreichen sie nach einigen Tagen tatsächlich eine schneefreie Gegend, in der sie auf einen Ziegenhirten treffen. Über ihn werden die nötigen Maßnahmen eingeleitet, um auch die anderen zu retten.

In der katholischen Kommunion fanden die Überlebenden ein Bild, das ihnen half, mit der begangenen Tabuüberschreitung sowohl in der damaligen Situation als auch danach besser zurechtzukommen. Sie stellten sich vor, die Seelen hätten ihre toten Körper verlassen, und seien damit einverstanden, mit ihrem Leib die anderen am Leben zu erhalten. Morphologisch gesehen, vollzog sich in dem geschilderten Drama nicht nur eine Kommunion der Lebenden mit den Toten, sondern auch eine Kommunion der maßgeblichen Verhältnisse von Haus und Weg, Erhalten und Verändern, Gestalt und Reise. Wie die Geschichte zeigt, finden solche Polaritäten nicht einfach so zusammen, im Laufe der Entwicklung können sich immer Vereinseitigungen, Verdrängungen, Verkehrungen, Spaltungen ereignen. Kommt ‚es‘ allerdings doch zusammen, gelingt also die Metamorphose, dann ist das auch eine Kommunion. Denn die bedeutet ja auch ‚Wandlung‘, womit wir schließlich an der anderen, meist verborgenen Seite der Selbsterhaltung angekommen wären. Wir blicken in unsere Abgründe und auf unsere Gestalthöhen und können dabei eine paradoxe Konstruktionserfahrung machen: Wo es scheinbar nur noch ums nackte Überleben geht, wird zugleich ein sonderbares Mehr an Leben – von Rausch und Schuld – spürbar.