Was heißt es, eine neue Psychologie zu entwerfen und beständig weiter zu entwickeln? Auf welche Weise begleitet sie den Alltag ihres Schöpfers? Wie gestaltet sich das Gespräch, das er mit der Wirklichkeit führt? Welche Folgen hat das für sein Leben? Wieviel Missverstehen und Spannungen nimmt er dafür in Kauf? Und schließlich: inwiefern wird er für sein Dranbleiben belohnt? Das sind ungewöhnliche Fragen, auf das ein Gespräch zwischen Linde und Wilhelm Salber eingeht. Das Interview fand am 18. Dezember 1992 statt – also ein viertel Jahr vor Salbers Emeritierung an der Universität Köln.

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L. S.: Du hast inzwischen eine ganze Reihe von Gedanken entwickelt über die Morphologie des seelischen Geschehens, hast sie zusammengebracht mit deiner eigenen Geschichte und mit der Geschichte des Denkens. Was mich interessiert, ist etwas dazwischen. Ich habe nochmal in den Büchern gelesen und auch in Interviews. Da ist oftmals die Rede von einem Gebilde mit  Namen Morphologie, das ständig etwas von uns will, uns zu etwas auffordert, uns in gewisser Weise zwingt, uns etwas abverlangt. Dann habe ich mich gefragt: Wer ist das, wer ist sie, die Morphologie? Es gibt von Nietzsche den Spruch: Die Wahrheit ist ein schönes Weib. Die Morphologie könnte ja auch ein Teddybär sein. Dazu wüsste ich gerne was.

W. S.: Ich könnte im Zuge der männlichen Gleichberechtigung sagen: Die Morphologie ist ein Er-Sie-Es. Aber ich denke, das mit dem Weib kann man schon lassen. Die Morphologie hat für mich was zu tun mit meinem Leben in dieser Wirklichkeit. Und irgendwie geht es mir um die Frage dabei, ob die Wirklichkeit mit mir spricht. Die Morphologie ist also zunächst mal: die Wirklichkeit spricht zu mir. Und zwar meine ich auch, dass sie zu mir spricht, weil sie mich ein klein wenig liebhat und weil sie möchte, dass ich diese Wirklichkeit auch liebhabe.

L. S.: Mich interessiert das auf einer Ebene der Beschreibung, und zwar: Wie spielt sich das alltäglich ab? Wie gerät diese Schöne in deinen Alltag, wie hat sie dein Leben entwickelt? Was ist das für eine Wirkungskraft? Dass sie Dich liebt, okay, aber sie streichelt Dich ja nicht – darüber hast du auch geschrieben. Was ist es also, man könnte ja fast sagen, was dich da in Bann hält, was dich fasziniert, was dich treibt, früh aufzustehen, was dich mit tausend Menschen in Beziehung bringt, was dir auch die Chance gibt, dich dem wieder zu entziehen …, was ist das?

W. S.: Ich fange mal an von Szenen, die mir einfallen. So wie bei einer Psychoanalyse. Zunächst fällt mir ein, dass mich interessierte, als ich ungefähr zehn Jahre war, wie das mit den Ameisen ist. Ich habe also Ameisen gesammelt, in ein Glas getan und Dreck drauf und irgendwelche Blättchen und wollte das einfach sehen. Ich würde fast sagen: als könnte ich auch so ein bisschen ameisenhaft werden, um zu verstehen, was die Ameisen sind. Aber dann gab es auch Erlebnisse, wo gleichsam von der Sehnsucht her das Ganze auftauchte. Ich hatte nun die Schule hinter mir – nein, ich hatte gar nicht Abitur, das muss mitten im Krieg gewesen sein – da dachte ich: jetzt hast du das Latein verstanden. Das war für mich ein wichtiges Erlebnis, dass ich dahinterkam, wie zum Beispiel eine halbe Seite bei Livius zusammenhing. Das war ganz faszinierend, das kam ganz plötzlich. Und dann habe ich gedacht: Was kannst du eigentlich? Was verstehst du, wenn du spazieren gehst oder herumrast – ich raste damals immer herum – oder wenn du jetzt zwei- und dreimal in einen Film gehst? Was kannst du damit anfangen? Als hätte ich da in ein Gespräch reinkommen müssen mit dem Film.

L. S.: Das ist interessant, in ein Gespräch mit dem Film. Man könnte fragen: Wieso ist die Morphologie zu einer Faszination geworden, die du im Rückzug oder in der Zurückgezogenheit betreibst oder in der Isolation? Also nicht im Gespräch mit anderen, was ja für viele an erster Stelle stehen mag.

W. S.: Also sprechen muss ich schon. Aber es ist sicher richtig, dass weite Partien ablaufen, während ich spazieren gehe, reise oder auch male. Dann kann ich eher darauf achten, da ist irgendwas – ja, wie bei einem Satz fast. Und dann merke ich auf einmal, das zieht sich durch und das kommt wieder.

L. S.: Was kommt wieder? Versuche, es einmal konkret zu beschreiben.

W. S.: Also beim Malen: Da sehe ich, dass eine Farbe das Bild zusammenhält und dass sie sich in anderen Farben bricht und wiederkommt. Und ich sehe zugleich die gleiche Farbe. Ich sehe, wie was dagegen ist und was diese Farbe ummalt. Zum Beispiel eine Gegend: ich sehe nicht nur die Häuschen und all die Bäume usw., sondern ich sehe in dem ganzen so etwas wie – ja, jetzt komme ich eben auf Morphologie – Gestalten. Aber diese Gestalten, die stehen nicht, sondern ich sehe sie immer wie eine Melodie. Und deshalb habe ich mich auch immer mit  Filmen beschäftigt; Filme – Opern auch – haben solche Melodien. Wenn ich spazieren gehe, dann bin ich auch dadurch, dass ich über sowas nachdenke, in einem Gebilde drin, wo ich auch merke, da kommt was wieder. Ich stelle die gleichen Fragen. Ich merke auch, ich gehe in der Richtung und ich merke, da geht eine Gegenrichtung; aber ich merke auch, ich bekomme das irgendwie in so ein Gefüge rein.

L. S.: Jetzt könnte man sich ja auch verlieren an die Farbverhältnisse, an die Stimmung oder an die Weite des Blicks. Du kommst auf Fragen und du konstruierst dabei. Du hast das zusammengefasst: „Ja, das geht dann in Richtung Morphologie.“ Was ist die Morphologie im Verhältnis zu dem, was du spürst, was du riechen oder anfassen kannst? Ist das nicht eine Art Stilisierung, eine Art Distanz? Vielleicht auch eine Angst vor Überwältigt-Werden durch die Wirklichkeit?

W. S.: Das ist sicher beides. Denn würde ich nicht davon gepackt oder würde ich – wie du  sagst – mich nicht in einem Blick verlieren oder in eine Sache reinkommen, die mich einfach mitreißt, dann würde ich ja auch nicht anfangen, darüber nachzudenken, warum das so eine Wirkung hat. Auf der anderen Seite:  indem ich über so einen Wirkungszusammenhang nachdenke, kriege ich natürlich eine Distanz. Und die brauche ich auch. Es ist platt, dass ich das immer sage:  mich interessiert, wie was zusammenhängt und wie was wirkt. Aber das lässt sich einfach nicht anders sagen. Ich meine, ich möchte es wirklich wissen, wie es denn kommt, dass etwas da ist, über eine Stunde weitergeht, sich verändert und doch bleibt.

L. S.: Die Psychologen gucken ja immer ein Stückchen weiter. Einer, der eine Unmenge von Energie darauf zentriert herauszufinden, dass alles zusammenhängt, der muss mit einer Grunderfahrung zu tun haben, dass alles zerfällt. Jemand, für den das spürbar ist wie eine große Sicherheit oder Selbstverständlichkeit, der wird vielleicht Weltenbummler werden. Oder Künstler. Also, mir scheint, die Morphologie ist ein Gebilde, das eine Gewähr dafür bieten soll, dass Wirklichkeit sicher ist, strukturiert ist, gebaut ist. Fällt dir irgendwas dazu ein, irgend etwas frühes?

W. S.: Mir fällt eben gar nicht ein, dass die Wirklichkeit sicher gebaut ist. Und ich würde auch die Morphologie nicht als ein sicheres System ansehen. Denn, wenn ich so viel Spaß habe an dem Paradoxen, an Brechungen, am Fragmentarischen und an den Montagen, dann ist das für mich ein Hinweis darauf, dass ich überhaupt nicht glaube, dass der Zusammenhang immer in einer einfachen, harmonischen, notwendig verständlichen Weise zustande kommt.

L. S.: Harmonie habe ich auch nicht gemeint, sondern ein Grundgefühl: da ist auch etwas Stimmiges. Zu dem Paradoxen und dem Fragmentarischen – das ist  sicher das, womit diese Theorie einen starken Reiz auf mich ausübt. Aber es ist nicht zu übersehen, dass dieses Paradoxe in der Morphologie an einem bestimmten, systematischen Ort – nicht abgelagert – aber eingefangen wird. Also eben nicht: sich in einen Wirbel begeben angesichts des Paradoxen, sondern es zu einem bewegenden Motiv machen und von da aus dann ein System aufbauen, das es erträglich zu machen scheint. Ist da was dran?

W. S.: Ja, da ist sicher etwas dran. Nicht im Sinne von: das soll Sicherheit und Stabilität propagieren. Ich meine, es ist doch so, dass wir eine Welt nur aushalten, wenn wir auch Phasen haben, in denen wir eingreifen können, eine Ordnung bemerken, indem wir Konsequenzen verfolgen. Oder nicht? Das scheint mir für jede Kultivierung wichtig zu sein. Und im Grunde möchte ich diesen Kultivierungsprozess einer monströsen und chaotischen Wirklichkeit fassen.

L. S.: Ich weiß nicht – vielleicht magst du darüber nicht reden. Aber mich interessiert nicht der öffentliche Teil – das hast du geschrieben, das sagst du in den Vorlesungen. Mich interessiert, was diese Schöne, Zwingende mit dem Namen Morphologie für dich ist. Also, was ist das Chaotische, das Paradoxe, das Zerfallende? Gibt es da irgendetwas, was du geschichtlich ausgraben könntest? In deiner Geschichte – nicht in dem allgemeinen Kultivierungsprozess, dem wir alle unterworfen sind.

W. S.: In meiner Geschichte? Wenn du meine Analyse meinst, sage ich nichts. [Anmerkung: Wilhelm Salber war in den 1970er Jahren bei Anna Freud in Psychoanalyse.]

L. S.: Ich meine nicht deine Analyse. Ich meine deinen Alltag, ich meine dein Leben.

W. S.: Natürlich kann ich über den Alltag und mein Leben etwas erzählen. Es war so, dass ich schon als Kind viel herumgereist bin, weil meine Eltern oft umgezogen sind und ich mich dadurch immer wieder auf neue Wirklichkeiten einstellen musste – neue Freunde, neue Erwachsene usw.. Dann ist für mich dieser Krieg wichtig gewesen und mit ihm die Veränderungen der Erfahrungen; wie ich als Kind schon das Leben sah, was ich  hoffen konnte oder was ich  nicht hoffen konnte. Und diese brennenden Städte und das Reinfahren in die Zerstörungen usw. – das ist nicht einfach so eine Sache, wo man sagt, das ist furchtbar. Eine brennende Stadt hat auch was Faszinierendes. Das muss man, auch als Psychologe, wenigstens mal zugeben können. Und zugleich bemerkt man am nächsten Tag all das Zerstörte. Das ist sicher auch eine Lebenserfahrung. Aber ich glaube, es hängt auch mit etwas zusammen, was sich vielleicht lächerlich anhört: Ich wollte immer Forscher werden, noch ehe ich wusste, was überhaupt Forschung ist. Das sah zunächst mal so aus, dass ich nach Afrika wollte. Ich wollte in den unbekannten Urwald eindringen und ganz neue Menschenformen kennenlernen. Und ich wollte auch mal Arzt werden, weil ich etwas mit Menschen zu tun haben wollte und weil es mich interessierte, wie man da eingreifen kann und was man da machen kann. Ich glaube, das ist auch etwas, was in dem System drin ist. In einer Welt, die so beweglich ist, ist das System eine Möglichkeit zuzupacken. Und beweglich ist diese Welt für mich von morgens bis abends. Wenn ich ganz früh aufstehe, dann sehe ich schon, wie langsam der Tag heraufkommt. Wenn ich herumlaufe, bemerke ich wie es in dieser beweglichen Welt riecht usw. Man muss es auf einen Nenner bringen.

L. S.: Menschen näher kennenlernen und wie man da eingreifen kann. Diese Fragen – ich komme nochmal darauf zurück – die haben sich ja gebildet im engeren Umkreis deiner Geschichte. Und ich weiß, dass du diesen Zusammenhang nicht gerne hast, aber ich sage ihn mal so platt, wie er mir jetzt einfällt: Wenn ich das richtig erinnere, bist du in einem Spannungsfeld groß geworden, das auf der einen Seite ziemlich chaotische, phantastische und verrückte Verhaltensformen auf die Beine stellte, die irgendwie mit Deiner Mutter und auch mit deren Schwestern zu tun hatten. Und auf der anderen Seite dieser vorsichtige, hilflose, Ordnung schaffende und …

W. S.: … ungemein liebe …

L. S.: … auch ungemein liebe Vater. So dass ich mich manchmal frage: Kommt in der Morphologie vielleicht dein Doppel in dem Sinne heraus, dass du eine Integration dieser Welt hinkriegen wolltest? Auf der einen Seite das kaum beherrschbare oder kaum begreifbare Durcheinander, das die Mutter inszeniert hat mit ihren eigenen Lebensproblemen und mit dem Verschwinden und Wieder-da-Sein – also irgendwas unverfügbar sich Entziehendes – und auf der anderen Seite dieser Buchhalter-Mensch, der schöne, klare, ordentliche Blätter mit Zahlen vollschrieb. Und die Morphologie hat etwas davon, dass sie auf der einen Seite das Paradoxe, das Fragmentarische, das Verrückte, das Chaotische in den Blick rückt – und zwar stärker als alle anderen Theorien – und auf der anderen Seite dann doch so etwas wie System, etwas Zwingendes hat. Oder auch etwas, was mit Beherrschung zu tun hat oder mit Übersicht-Herstellen.

W. S.: Ich würde das nicht so sehr an meiner Familie festmachen, sondern eher umgekehrt sagen: dass ich die Familie so sehen kann, das kommt daher, dass ich überall in der Wirklichkeit – die ich gern verstehen möchte und von der ich ein bisschen geliebt werden will – solche seltsamen Verhältnisse vorfinde. Dass also nichts in der Welt in einer vernünftigen Folge daherkommt, ist es eigentlich, was mich dann auch dazu bringt, die Eltern so zu sehen.

L. S.: Und ich meine, das wäre schon eine Verarbeitungsform. Also: bevor du deine Eltern sehen konntest als etwas von einer bestimmten Beschaffenheit, bist du ja längst von ihnen beeindruckt worden. Du bist längst in einer Atmosphäre aufgewachsen, wo Quirliges und zwanghafte Ordnung in Konfrontation, manchmal vielleicht auch in Ergänzung, vorhanden waren. Ich meine also, dass du von da aus eine besondere Sensibilität entwickelt hast, all das in der ganzen Wirklichkeit wiederzufinden. Und im Krieg hast du auch eine ziemlich harte Erfahrung gemacht. Ich merke, jetzt kommt mir was quer: von einer brutalen Ordnung und von einem perversen Ineinander-Kippen von Chaos und Ordnung. Ich weiß aber gar nicht, wozu dieser Satz gut ist.

W. S.: Ja, dennoch finde ich ihn ganz richtig. Aber ich wollte nochmal auf den Faden kommen: dass eben nichts so in einer Linie gedacht werden kann, nichts als Fortschritt der Vernunft.

L. S.: Genau das meine ich ja, dass nichts in einer Richtung geht. Und, dass du dich wahrscheinlich einmal der mehr wirbeligen Seite zugehörig fühltest und da auch deine verrückten Freiheiten unterbringen konntest und dann andererseits aber dieser kleine Mann mit der Uhr dastand und Willi disziplinierte, wenn er zu spät kam. In dieser Spannung hast du erfahren: es ist beides da. Und vielleicht kann man es in einem System besser zusammenbringen als in dieser kleinen Familie am Anfang.

W. S.: Man kann es auch anders zusammenbringen. Man kann beispielsweise dagegen revoltieren. Und ich denke, dass ich gegen das eine wie gegen das andere revoltiert habe. Aber damit waren sie nicht aus der Welt zu bringen. Und eigentlich erwuchs daraus der Versuch: dann lass ich mir von der Wirklichkeit was sagen und versuche, in absurder Weise die Wirklichkeit durchzusetzen. Zugleich verrücke ich sie aber und versuche, sie zu packen. Aber da kam mir noch ein anderer Gedanke dazwischen. Während du sprachst fiel mir ein, dass ich immer, von klein an, gekritzelt und gemalt habe. Und eines Tages bekamen wir Besuch von dem Lehrer. Ich malte gerade auf der einen Seite den Kölner Karneval – so richtig, wie mir das vorschwebte – und auf der anderen Seite malte ich eine Kreuzigung. Meine Mutter war über dieses Kind etwas unglücklich und versuchte, mich gegenüber dem Lehrer zu entschuldigen. Irgendwelche Rationalisierungen aus der katholischen Welt. Dass auf den Karneval schließlich die Fastenzeit folge usw.. Aber für mich war das so. Das wechselte! Das war sozusagen der Tanz, in den die Wirklichkeit uns hineinnimmt, um nun auch einmal Goethe zu zitieren.

L. S.: Das hätte ja auch fortgesetzt werden können: Kritzeln und Malen als Hauptbewältigungsmethode. Das ist jetzt sehr technisch formuliert. Aber es musste ja nicht in Richtung Wissenschaft gehen. Ich denke, Wissenschaft ist ein anders beschaffener Versuch, ein strengerer Versuch – mein Gott, jetzt kommen meine Vorurteile über den Künstler raus – ein Versuch, das mit mehr Disziplin zu machen und auch aus einer größeren Distanz.  Sich eben nicht in den Matsch zu setzen und – was weiß ich – dann dementsprechend mit den Farben zu matschen.

W. S.: Nein, so würd‘ ich das nicht sehen. Ich würde es so sagen: hätte ich das Gefühl gehabt, dass ich da wirklich etwas kann, also diszipliniert von morgens bis abends an einer Sache zu arbeiten und hätte ich das Gefühl gehabt, da bringe ich etwas heraus, dann wäre ich sicher in diese Richtung  gegangen. Aber ich habe erlebt, dass ich in der Art und Weise, in der ich dachte, die Kunst ganz anders einsetzen konnte. Man darf die Kunst ja nicht nur mit dem gleichsetzen, was ein Maler mit einem Pinsel macht. Ich finde, die Wissenschaft mal so zu betreiben, dass – bei aller Disziplin – auch diese Gesichtspunkte des Künstlerischen herauskommen, das ist ja doch eine Produktion! Das ist doch etwas, was uns neue Einfälle bringt. Und in gewisser Weise habe ich mich mit dieser Auffassung auch immer um der Sache willen, um dieser Wirklichkeit willen, gegen alles gewehrt, was es an Unangenehmem auch an der Universität gibt.

L. S.: Das ist richtig. Insofern könnte man sagen, dass du die Revolte fortgesetzt hast. Sie hat nicht nur in dem kleinen Haus stattgefunden. Ich möchte nochmal zurückkommen auf “an einer Sache arbeiten von morgens bis abends”. Was ist da so verpflichtend, dass man an einer Sache arbeiten muss von morgens bis abends? Warum kann man sich nicht von morgens bis abends verlieren und es dann einzufangen suchen in einer eigenen Produktion? Ich denke, es muss noch etwas da sein, was wir noch nicht begriffen haben. Vielleicht hat das damit zu tun, dass du mehr das Betrachten gewählt hast, als das – das ist nun auch wieder so eine simple Gegenüberstellung – als das Machen, das Tische Bauen oder Herumfummeln an Material oder irgend so was.

W. S.: Das ist jetzt in eine etwas andere Richtung gelaufen, als du es ursprünglich angefangen hast. Ich hatte mehr so gedacht: Dieses Ringen von morgens bis abends, das ist eigentlich ein Versuch, die Wirklichkeit an sich zu pressen, aber auch dann in diese Zustände zu geraten, wo man so erschöpft ist, dass man auf einmal – wenn das Ringen etwas abgeklungen ist – auch hört, was da gesagt werden soll. Also, das ist ein Prozess und den halte ich durchaus für einen, bei dem ich etwas mache oder sogar ‘matsche’ – ich male ja gern und ich male auch gern mit den Fingern. Ich streiche auch gerne etwas an und ich hämmere auch gerne. So sehr sie mich auch in meiner Kindheit daran gehindert haben, so etwas zu tun. Kurz: ich sehe überhaupt keinen Gegensatz darin.

L. S.: Wirklichkeit an sich pressen – warum nicht die Arme aufmachen und sie auf sich zukommen lassen?

W. S.: Ja, vielleicht läuft sie dann an einem vorbei. Pressen bedeutet nicht, dass man sie im Schweißkästchen halten muss; sondern das heißt: wenn die Wirklichkeit auf einen zuläuft, dann muss man sie auch in den Arm nehmen. Aber man muss auch wieder loslassen können – und immer wieder neu. Das ist, so meine ich, der Vorgang.

L. S.: Jetzt hast du das Wort mit dem “Schweißkästchen” oder dem Schwitzkästchen gebracht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Morphologie nicht nur die Wirklichkeit ist, die du beobachtest, sondern auch dich in ein Schwitzkästchen setzt.

W. S.: Ja, das gehört auch zu dem Paradoxen. Wenn man etwas angerichtet hat, dann wird man von dem angeeignet, was man angerichtet hat. Und es ist sicher so, dass dann Dinge als Verpflichtungen auf einen zukommen, die man in seinen freien Entwürfen nicht drin hatte. Aber es gehört dazu, dass ich das in dieser Wirklichkeit nicht verleugne. Ich werde gefragt und ich muss antworten. Es macht jemand was und ich muss dabei mitmachen. Das ist überhaupt nicht zu vermeiden. Auch nicht, wenn man an der Universität ist und nicht nur die Forschung, sondern auch die Lehre vertritt. Und natürlich werde ich viel stärker verschlissen als irgendjemand anderes. Ich kann doch fast keinen freien Gedanken mehr äußern, ohne das gesagt wird: jetzt hat er seine Theorie geändert. Man kommt mit dem Tun unweigerlich in Zwänge hinein. Das muss man sehen.

L. S.: Klar, unfreiwillig freigewählte Zwänge. Ist da nicht etwas von einer Gefahr, die abgewiesen wird, indem du unfreiwillig freiwillig einen Lebensweg eingeschlagen hast mit solchen Gebundenheiten und Verpflichtungen und mit einer Rolle, wo du eben auf Fragen meinst antworten zu sollen oder zu wollen? Also von morgens bis abends ringen. Man könnte ja fragen: Ist damit ein Leiden oder ein Problem verbunden, was aufkommen kann, wenn man es nicht walkt und modelliert?

W. S.: Also, ich ringe keineswegs immer von morgens bis abends. Das ist eine zugespitzte Formulierung gewesen, bezogen auf das Arbeiten, das ich natürlich auch tatsächlich in dieser Weise praktiziere. Aber ich habe genauso gut meine Freiräume. Und da kämpfe ich auch drum und da will ich mir auch von keinem reinreden lassen. Da will ich auch frei sein und herumgammeln und da fällt mir auch sehr häufig vieles ein. Aber das Schöne ist eben: Diese Einfälle sind nicht irgendwo und die brauchen gar nicht zu verpuffen, sondern die kann ich dann wieder aufgreifen und verfolgen. Das ist das schöne, dieses Spiel – also nicht immer nur in der einen Richtung oder nicht nur in der anderen Richtung –, sondern, dass sich das ergänzt, das finde ich das Wunderbare dabei.

L. S.: Ich habe gerade gedacht: Die Morphologie ist ja auch etwas, was immer bei dir sein kann, was auch als Alp bei dir sein kann, aber du bist nie allein. Du hast dir da etwas entwickelt, was dich fragt, was dich verlangt, was dich herausfordert und du bist im Grunde nie allein. Selbst wenn Leere aufkommt, selbst wenn dich was zu überwältigen droht – eine Stimmung oder ich weiß nicht was – dann ist da ein Gebilde, das dir einerseits dabei hilft , das durchzudenken, manchmal vielleicht auch wegzudenken. Aber “die Schöne” ist immer um Dich, sie ist immer verfügbar.

W. S.: Ja, das ist richtig. Ich bin ja ein Einzelkind gewesen und hätte sicher gerne ein Geschwister gehabt. Und das ist mein Geschwisterchen. Natürlich hänge ich da dran. Ich habe  auch Zustände, in denen ich das Geschwisterchen nicht so sehr mag. Aber es stimmt. Im Grunde ist das etwas, was dann angefangen hat, mit mir zu sprechen. Das sagt mir auch: Jetzt mach eine Pause, lass dir das nicht gefallen. Ich könnte das direkt so formulieren. – Oder: guten Morgen Wilhelm …

L. S.: Das ist die eine Seite. Darüber hinaus – das hast du irgendwann mal gesagt – ist die Morphologie für dich auch etwas, über das du mit anderen ins Gespräch kommst. Ist sie eine Art Übergangsobjekt oder ist sie ein Zwischengebilde, so dass die anderen dir nicht zu nahe kommen? In der Mitte steht immer die Schöne, und um die geht es dann? So wie bei Kindern, die sich im Sandkasten über den Sand verständigen oder über die Schaufelchen. Wie ein Medium kommt mir das vor, das zwischen dir und anderen einerseits eine Distanz errichtet, andererseits aber auch immer wieder einen Bereich eröffnet, in dem du den anderen begegnen kannst. Ein bisschen von Distanz einerseits und von Werbung um die Zuwendung der anderen andererseits.

W. S.: Alles, was Du gesagt hast, könnte ich unterschreiben. Das Seelische existiert überhaupt nur in solchen Medien. Manche Leute tun das mit der Kleidung, andere  tun das mit ihrer Einrichtung. Manche versuchen es mit dem Einsatz ihrer Person. Ich mache es mit diesem ‚Harvey‘ Morphologie. Das ist für mich ein Art Kunstwerk, von dem aus ich mit anderen Leuten ins Gespräch kommen kann. Es ist auch eine Möglichkeit, andere anzusprechen, sie dazu zu bringen sich zu äußern. Ja, dadurch bin ich in der Wirklichkeit. [Anmerkung: “Mein Freund Harvey” ist ein Theaterstück von Mary Chase, Uraufführung 1944 in New York. Dort geht es um einen unsichtbaren, zwei Meter großen Hasen, den die männliche Hauptperson Elwood als “Freund” mit sich führt.]

L. S.: Ich möchte am Schluss noch eine Beziehung herstellen. Du hast gesagt, die Morphologie ist für dich eine Art Kunstwerk. Und das Kunstwerk Morphologie ist ein Medium, sich mit anderen über Wirklichkeit zu verständigen. Für Sergej Eisenstein war das der Film. Also auch ein Medium, mit anderen etwas zusammen zu machen und ihnen zugleich etwas zur Verfügung zu stellen. Etwas, was ihr Seelenleben in Bewegung bringt. Ich denke, eine Psychologie entwickeln oder einen Film entwickeln, das hat unterschiedliche Wirkungen. Als Lehre hat die Morphologie etwas Verpflichtendes oder Zwingendes. Wohingegen der Film vielleicht eher Spielräume des Erlebens eröffnet, die noch nicht begriffen sind. Verstehst du, was ich an Verzweigung sehe?

W. S.: Eisenstein mag ich sehr. Er hat nicht nur Filme, sondern auch eine ganz besondere Art von Film entwickelt. Eine Figuration des Films, die es bis dahin kaum gab. Darin sehe ich die Analogie. Figurationen sind es, über die wir der Wirklichkeit die Möglichkeit geben, uns etwas zu sagen. Und mit Figurationen haben wir die Möglichkeit, uns selber darzustellen. In ihnen haben wir auch die Möglichkeit, zur Wirkung zu kommen. Denn – das sollte man nicht übersehen – wir wollen auch wirken. In der Wirklichkeit leben, heißt nicht nur beobachten und still dasitzen. Natürlich möchte ich wirken. Und ich möchte auch dadurch wirken, dass ich das, was ich gesehen habe und was mich verfolgt, anderen mitteile. Das machte Eisenstein durch eine besondere Art von Film – die übrigens auch nicht aufgegriffen wurde. So begeistert waren die Leute gar nicht  davon. Das war immer nur eine bestimmte Gruppe, die diesen Eisenstein-Film schätzte. Und genauso ist es wohl auch mit jeder Art von Wissenschaft, die etwas von der Wirklichkeit herausstellt, was gedrehter oder verrückter ist. Aber dennoch will sie auch wirken.

L. S.: Ich möchte die Analogie noch ein Stück weiter verfolgen: Eisenstein hatte auch diese Wut zur Synthese, zum Konstruieren; er sprach von Konstruktionsmethode und verwendete eine Menge morphologischer Begriffe. Die Theorie war für ihn eine wichtige Sache. Aber darüber hinaus hat er Filme gemacht. Er hat Werke in die Welt gesetzt, die bei anderen etwas in Gang gebracht haben – wenn es gutging. Und zwar in seinem Sinne. Er wollte sie anders sehen lehren. Was wäre die Analogie zu seinen Filmen? Gibt es in der Morphologie dazu eine Entsprechung?

W. S.: Ich denke schon. Ich möchte niemandem beibringen, dass er in bestimmten Situationen zum Bücherschrank läuft, ein Buch herausnimmt und es liest. Ich möchte, dass die Psychologen die Morphologie wie einen Griff im Handgelenk haben, dass sie die seelischen Zusammenhänge – von den Grundprinzipien ausgehend – selber nachbilden können. Da ist vielleicht noch ein viel weitergehender Anspruch als beim Filmemachen. Ich möchte Psychologen nicht nur in etwas hineinbringen. Ich will, dass sie mit den Konzepten selbstständig arbeiten. Wenn ich das einmal karikierend sagen darf: als würde Eisenstein die Leute mit seinen Filmen dazu angeleitet haben, nicht immer nur den “Panzerkreuzer Potemkin” anzusehen, sondern selber “home-videos” herzustellen. Und ich würde auch noch eine andere Analogie sehen: Ich habe mich immer bemüht, Worte zu finden, die aus meinem Alltag kommen. Und zwar von Anfang an, weil mir das ganz wichtig war für das Gespräch mit der Wirklichkeit, Ich habe wirklich viel Zeit aufgewendet, um passende Worte zu finden: “Dazwischen”, “Verrücken”, “Indem”, “Gestaltbrechung”.

L. S.: Komischerweise hat es sich dabei dennoch nicht vermeiden lassen, dass diese Worte, die nur angesichts der Wirklichkeit Sinn machen, aufgenommen werden wie feste Gegenstände. Ich möchte daher am Schluss die Frage stellen, ob du eine Erklärung dafür hast, dass die Morphologie sich so leicht verkehren kann in der Richtung, dass manche Konstruktionen nur nachgeredet und nicht begriffen werden. So als würde nur die Hälfte des Spiels mitgemacht. Denn die Morphologie ist doch angewiesen auf eine anschauliche Wirklichkeit, die durch sie Linien bekommt und zum Sprechen gebracht wird. Beinhaltet also Morphologie eine Verführung, sie zu isolieren und als von der Wirklichkeit abgehobenes Gebilde zu verhandeln? Ich glaube nicht, dass das ‚im Sinne des Erfinders‘ ist.

W. S.: Das ist gewiss nicht im Sinne des Erfinders. Ich möchte dazu zwei Gedanken reinbringen. Einmal – das zeigt sich an vorliegenden Veröffentlichungen und an Vorträgen – trifft das lange nicht für alle zu. Es gibt eine Reihe von Studierenden oder Diplom-Psychologen, die die Morphologie von sich aus nochmal nachbilden und daraus ihre Beobachtungen zu ordnen suchen. Und der andere Gedanke: Das ist überhaupt nicht zu vermeiden. Ich kenne keinen einzigen Ansatz in der Geschichte – und ich habe mich ausgiebig mit Geschichte beschäftigt -, bei dem nicht solche Verkehrungen vorkommen. Ob man nun die großen Philosophen nimmt – selbst, was andere Philosophen über sie geschrieben haben, ist oft schon eine Verkehrung – oder ob man die großen Psychologen nimmt. Was wird nicht alles über Nietzsche geschrieben, ohne dass man sich auf seine Beobachtungen einlässt? Wie wird  Freud heute erzählt? Das hat auch bei sogenannten Fachleuten nicht mehr viel mit dem zu tun, was in der Freud’schen Forderung lag: zunächst einmal hinzuhören, hinzusehen und dann erst herauszuheben. Ich denke, das ist ein allgemeines Schicksal, da ist die Morphologie keine Sonderform. Es ist ein allgemeines geschichtliches Verkehren von Systemen.