Von Ende September bis Anfang November 2020 hielt Prof. Dr. Dirk Blothner sechs Web-Vorlesungen: “Über die Filmische Kunst des Seelischen – Alfred Hitchcock als Psychologe”. Wir haben die Vorträge aufgezeichnet und stellen sie an dieser Stelle den Besuchern der Website zur Ansicht zur Verfügung. Zusammen vermitteln sie ein rundes Bild von Hitchcocks Filmen und der Psychologischen Morphologie. Trotzdem müssen sie nicht en bloc angesehen werden. Jede Vorlesung ist aus sich heraus verstehbar.
1. Gestalten als Protagonisten
Hitchcock mochte keine Schauspieler, die sich mit speziellen Techniken in die Gefühle ihrer Rolle hineinzuversetzen suchten. Ihm ging es nicht um das „Innenleben“ von Charakteren. Die „Figuren“, die ihn interessierten, waren die seelischen Gestalten, die Menschen und Gegenstände aufeinander beziehen und ausrichten. Er mochte Schauspieler, die sich in solche Zusammenhänge eingliederten, indem sie möglichst wenig „spielten“. Wir stellen eine Reihe von Szenen zusammen, in denen die Wirkung solcher, Personen und Gegenstände behandelnder Gestalten sichtbar werden. Sie waren für Hitchcock die wahren „Protagonisten“ des Films.
Ausschnitte aus folgenden Filmen: Immer Ärger mit Harry (1955), Das Fenster zum Hof (1954), Geheimagent (1936).
2. Direktes und Vermitteltes
Hitchcock wusste, welch eine starke Präsenz direkte Formen der Durchsetzung im menschlichen Zusammenleben haben. In seinen Filmen ließ er die Wirkung von kaum zu beeinflussenden Besessenheiten eindrücklich durchscheinen: Wahn, Macht, dranghafte Sexualität sind die Antagonisten, mit denen vermittelte Formen des Zusammenlebens zu kämpfen haben. Sie brechen in die kultivierten Formen der psychischen Wirklichkeit ein und suchen sie nach ihrem Bilde zu auszurichten.
Ausschnitte aus folgenden Filmen: Jung und unschuldig (1937), Berüchtigt (1946), Vertigo (1958), Marnie (1964).
3. Krieg der (Stunden-)Welten
In Hitchcocks Filmen gibt es so gut wie keine Duelle oder Kampfszenen. Sie zeigen nur selten physische Gewalt. Dafür aber kann man in ihnen viele Beispiele unbemerkter, psychischer Gewalt beobachten. Sie kommt zustande, weil die seelischen Gestalten praktisch immer um ihr Überleben kämpfen. Haben Sie sich erst einmal gebildet, wollen sie nicht von anderen Gestalten gebrochen und einverleibt werden. So zeigen Hitchcocks Filme – freilich mit gutem Humor – oft einen Krieg der Stundenwelten. Sie übertragen das von Thomas Hobbes 1651 aufgestellte Prinzip des „homo homini lupus“ („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) auf den menschlichen Alltag.
Mit Ausschnitten aus: Berüchtigt (1946), Immer Ärger mit Harry (1955), Eine Dame verschwindet (1938), Die 39 Stufen (1935), Der unsichtbare Dritte (1959).
4. Das Ich und das Andere
Hitchcocks Filme versuchen nicht vorzumachen, wir seien „Herren im eigenen Haus“. Im Gegenteil! Seine berühmten filmischen Erzähltechniken „Suspense“ und „Surprise“ kommen deshalb so häufig vor, weil über sie deutlich wird, dass die Menschen von Wirkungen übergriffen werden, die sie nicht im Blick haben. Im Moment der Überraschung offenbart sich etwas, was bis dahin im Verborgenen wirkte. Und wenn wir bei einer spannenden Szene einer Figur zuschauen, die sich ahnungslos in Gefahr begibt (Suspense), erleben wir, dass er von anderen Wirksamkeiten bestimmt wird. Das Ich hat das Andere nicht im Blick und wird doch von ihm bestimmt.
Mit Ausschnitten aus: Familiengrab (1976), Saboteure (1942), Der falsche Mann (1956), Die Vögel (1963), Psycho (1960), Der unsichtbare Dritte (1959).
5. Kunstanaloge Bilderwelt
Hitchcock sah sich weniger als ein Geschichten-Erzähler und mehr als ein Maler. Die Zeichnungen und Gemälde von Paul Klee waren ihm Vorbild und Bestätigung. Tatsächlich hat er zu den meisten seiner Filme Storyboards anfertigen lassen und viele Szenen vorher selbst gezeichnet. Diese Nähe des Filmemacher zur Bildenden Kunst zeigt sich in der Art und Weise seiner „mise en scene“. Für die Morphologie sind Hitchcocks szenische Glanzlichter interessant, weil sich darin Analogien zwischen Ästhetik und seelischen Gestaltungen (Psychästhetik) zum Ausdruck bringen. In dieser Vorlesung durchforsten wir Hitchcocks Filme nach ihren schönsten „filmischen Gemälden“.
Mit Ausschnitten aus: Der Fremde im Zug (1951), Der unsichtbare Dritte (1959), Der Mann von der Insel Man (1929), Berüchtigt (1946), Vertigo (1958), Topas (1969), Der Schatten des Zweifels (1943).
6. Lust und Kunst des Höhepunkts
Film ist eine im Hier und Jetzt durchlebte Bildmetamorphose. Wir können aus ihr kaum aussteigen und wollen es auch nicht solange die belebten Gestaltungsrichtungen keinen Abschluss gefunden haben. Hitchcock hat es sich zur Aufgabe gemacht, die stärksten, aberwitzigsten und intensivsten Höhepunkte der Filmerzählung zu gestalten. Ihm war der Aufbau des Ganzen ungemein wichtig. Er wusste, wie sich entfesselte Emotionen steigern und auf eine alles noch einmal belebende und zugleich lösende Klimax hinführen lassen. Wir werden in dieser Abschlussvorlesung einige der beeindruckendsten Höhepunkte aus Hitchcocks Filmen besprechen.
Mit Ausschnitten aus: Saboteure (1942), Berüchtigt (1946), Der unsichtbare Dritte (1959).