Macht es Sinn, einen in Europa stattfindenden Krieg psychologisch zu betrachten? Ist das zu rechtfertigen? Der Blog “Morphologien von Krieg und Frieden” möchte es versuchen. So wie die Psychologische Morphologie die unbewussten Gestaltungen des menschlichen Alltags ohne Beschönigungen beschreibt, so wird sie es auch mit dem Krieg in der Ukraine und seinen vielfältigen Auswirkungen tun. Ziel der hier veröffentlichten Blog-Beiträge ist es, die Metamorphosen von Krieg und Frieden zu verstehen. 

 

Beitrag #1 (04.03.2022) von Dirk Blothner

Die knapp vierminütige Rede von Martin Kimani, dem Botschafter des nicht ständigen Mitglieds Kenyas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Auszüge aus der NZZ vom 24.02.2022)

Am Tag des Beginns der russischen Invasion in die Ukraine tagte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Botschafter des nicht ständigen Mitglieds Kenya, Martin Kimani, brachte eine überraschende Stellungnahme ein. Sie bezog sich auf  Bemerkungen des russischen Präsidenten, der die Auflösung der Sowjetunion, die der Ukraine die Unabhängigkeit gebracht hatte, als “größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte.

Die wenigen Sätze von Kenyas UN-Botschafters sind psychologisch interessant, weil sie an die aktiv gestaltenden Kräfte des Seelischen appellieren. Jede Generation findet Ordnungen ihrer Ahnen vor und muss doch auf deren Grundlage Gegenwart und Zukunft gestalten. Frieden ergibt sich unter diesen Bedingungen nicht von allein. Aber er kann erreicht werden, wenn die Menschen die gegebenen Spannungen und Konflikte aushalten und dafür einen Umgang in Gesprächen, Verhandlungen und Verträgen finden. Diese Bemühungen sind im Fall des Ukraine-Krieges gescheitert.

Wir geben Auszüge der bemerkenswerten Stellungnahme Martin Kimanis am Tag des Kriegsbeginns wieder:

«Kenya und fast jedes andere afrikanische Land wurden durch das Ende der Imperien geboren. Unsere Grenzen wurden in den fernen kolonialen Metropolen London, Paris und Lissabon gezogen, ohne Rücksicht auf die uralten Nationen, die dadurch auseinandergerissen wurden.» «Wenn wir bei der Unabhängigkeit versucht hätten, Staaten zu bilden, die ethnisch und religiös möglichst homogen wären, würden wir Jahrzehnte später noch immer blutige Kriege führen.» «Wir fanden uns stattdessen mit den Grenzen ab, die wir geerbt hatten. Statt Nationen zu bilden, die mit gefährlicher Nostalgie rückwärts schauen, entschieden wir uns, nach vorne zu schauen, in Richtung einer Grösse, die keine unserer vielen Nationen und Völker je gekannt hatte.» «Wir glauben, dass es in allen Staaten, die aus zusammengebrochenen Imperien entstanden sind, Leute gibt, die sich nach der Vereinigung mit Menschen in benachbarten Staaten sehnen. Das ist normal und verständlich.» «Kenya lehnt es aber ab, diese Sehnsucht mit Gewalt zu verfolgen. Wir müssen die Glut toter Imperien auf eine Weise hinter uns lassen, die uns nicht zurückwirft in neue Formen von Dominanz und Unterdrückung.»

Das kurze Video mit der Rede Kimanis kann über diesen LINK angesehen werden.

 

Beitrag #2 (27.02.2022) von LInde Salber

Von Linde Salber erhielten wir am 27. Februar, drei Tage nach Beginn des Ukraine Krieges, folgenden Text und die unten angefügten Bilder.

Körper Maß!!!
In zweierlei Hinsicht

Bildhauerei:
nicht „Real-Ismus“, sondern Wahl von Menschen Maß (in plattem und weiter reichendem Sinn).

Rückbindung an Körper als Grundlage, Rückbindung für Sinn/Interpretation.

Körper als unbändige Energie, Werden, Steigerung, Verwandlungslust.

Doch: zugleich Grunderfahrung/Wissen von Hinfälligkeit, Verwandlungsgrenze Tod…

(((—- „Doch alle Lust will Ewigkeit“ (FN). Braucht allerdings Hilfskonstruktionen, wie Verfassung usw.

Also: in der künstlerischen Gestaltung des Körpers – mal still, satt, gedrungen, edel, statutarisch, mal gedreht, verrenkt, mal erdenschwer, mal fliegen wollend, mal gebeugt, gekrümmt, zerfallend, mal ineins mit anderem Körper, Doppelglück —- Und und und und so weiter.

Im „Körpermaterial“ lässt sich alles zeigen und betrachtend durchleben, was seelisch relevant ist!

Die Bedeutung der körperlichen Konstitution des Seelischen gilt natürlich nicht nur für die Bildhauerei.

Unsere (von WS so genannte) Auskuppelkultur wird aktuell seit Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 unter Schock gestellt. Alles kann durch Krieg, wie bereits in der Corona Gefahr erlebt, unversehens perdu gehen! Der Körper und alle seine Gesellschaftlichen Sicherungssysteme. Ganz zu schweigen von liebgewordenen Unternehmungen.

Ein Schock allerdings, der produktiv werden kann, wenn die seelische Verstiegenheit des „xbeliebig Machbaren“ scheitert und in seinem Scheitern spürbar wird. Mir kommt es so vor, als könne nur ein Schock die „Auskuppelkultur“ in eine Metamorphose schicken.

Krieg zerstört und tötet. Materiales lässt sich wohl irgendwann wieder errichten, nicht jedoch die Lebendigkeit des Körpers. Klar, ist banal. Aber das Banale ist auch in diesem Fall das Befeutsame, da es uns im/am Leben „hält“.

Umwertungen stehen an – zum Beispiel, was die Perspektivität betrifft. In den sog. Naturwissenschaften sowie in digitalen Systemen verpönt, bzw. außer Kraft gesetzt, belebt sich die Bedeutung von Raum und Zeit.

Unsere Lebensform gerät zur Zeit unter Beschuss, zwei Flugstunden entfernt. Wie stellen wir uns dazu? Hilft die lockere Maxime der Auskuppelkultur: anything goes, weiter?
Wilhelm Salber hat auf die Frage, wie sich die Kultur werde umbilden können in den nächsten Jahren, stets geantwortet, dass sich das nicht ausdenken lasse, auch nicht mit morphologischer Analyse. Man werde sehen.

Das sollte heißen, dass Psychologen keine Voraus-Seher seien, sondern, dass sie genau hinsehen müssen. Sonst können sie die geschichtlichen Ereignisse, Zufall, Katastrophen in ihrer formenden Kraft nicht entschlüsseln.

Körpergebundenes seelisches Geschehen kann zwar digitale Welten als Prothese erfinden und nutzen, aber das Seelische ist nicht von der Art Zeit und Raum enthobener Konstruktionen.

Kein Versehen, dass Themen aufkommen wie Heimat, Mundart, Regionales, Landesgrenzen und Ähnliches. (Siehe 24. Februar 2022)

Ich habe lange keine Bundestagsitzung interessant finden können. Jetzt aber, da die Gefahr von Übermächtigtwerden und Unterwerfung durch fremdes Maß zu fürchten Anlass geben, lösen sich die Leute aus dem „digitalen Allerlei“ des xbeliebig Möglichen.

Es geht darum, ganz konkret Stellung zu nehmen für eine Lebensform der Demokratie, so demoliert sie auch an manchen Stellen sein mag. Ist es nicht die beste aller Welten, so doch vielleicht eine Form, in der die Eigenwilligkeit ihre Mitglieder einigen Spielraum hat. Das mag eine, im Sinne William Kentridge’s „weniger gute Idee“ sein. Aber weil sie Menschenformat hat, sei sie vorzuziehen. Jedenfalls schützt sie vor der Brutalität angemaßter Scharfrichterei …

 

Beitrag #3 (05.03.2022) von rheingold Institut, Köln

Das rheingold Institut in Köln veröffentlichte am 3. März 2022 eine erste Beschreibung der Stimmung in der deutschen Bevölkerung nach Beginn des Ukraine-Krieges.  

Zitat: “Während die Politik Entschlossenheit und Tatkraft zeigt, fühlen sich viele Bürger ohnmächtig und blicken wie paralysiert in den Kriegs-Abgrund. Die Krisenpermanenz wächst sich zur albtraumhaften Dauerschleife aus. Dabei haben die Menschen das schwindelige Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füssen entzogen wird. Ihre Kriegs- und Untergangsängste kontrastieren dabei mit ihrem wie gewohnt funktionierenden Alltag und verleihen der Situation so eine Unwirklichkeit: ‘Ich fühle mich, als wäre ich Teil einer schlechten Serie.'”

Über den LINK kommen Sie direkt zu dem Beitrag auf der Website des rheingold Instituts.

Beitrag #4 (07.03.2022) von Carolin und Daniel Salber

Putins Weg zum Totalitarismus

Niederwerfung und Vernichtung der Ukraine sind gar nicht Zweck, sondern Putins Mittel auf dem Weg zu totaler Herrschaft – nach dem Muster Stalins und Hitlers.

Nach Hannah Arendt ist der Totalitarismus ein modernes Phänomen, das sich von Tyrannei, Diktatur oder Despotie grundsätzlich unterscheidet. Die totale Herrschaft gründet sich auf apathische, frustrierte Massen, die in ihrer Verlassenheit und Orientierungslosigkeit durch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Führung geeint sind.

Totalitäre Bewegungen schaffen durch ideologische Propaganda eine fiktive Welt, die als absolute Wahrheit, als Schlüssel aller Probleme, auftritt und durch keine Erfahrung beeinflussbar ist. Der Krieg gegen die Ukraine, der nicht mehr „Krieg“ genannt werden darf, hat Putin in Richtung der fiktiven Welt einen großen Sprung ermöglicht (Verbot aller abweichenden Informationen und ausländischer Medien; extreme Lügen werden als „Fakten“ geglaubt usw.).

Totalitäre Herrschaft braucht Instabilität, damit die Massen nie zur Ruhe kommen und der Herrscher immer wieder Ordnung herstellen und Terror entfesseln kann. Die westlichen Sanktionen leisten Putin daher ungewollt große Dienste, indem sie die russischen Massen zusammenschweißen, noch haltloser machen und die Wut auf den Feind im „Westen“ schüren. Möglicherweise hat Putin die Sanktionen bei seinem Vorhaben mit eingerechnet.

Die totale Beherrschung der Menschen durch ideologischen Zwang ist notwendig auf Weltherrschaft ausgerichtet, um alle anderen Perspektiven auf die Wirklichkeit auszuschalten. Jetzt schon zittert die ganze Welt vor Putins Drohung mit Atomschlägen. Genau darauf hat er kalkuliert – dass die westlichen Demokratien die Ukraine im Stich lassen. Wenn unsere These stimmt, ist der Überfall auf die Ukraine aber nur der Auftakt zur Schaffung einer „neuen Welt“.

Und noch ein Satz von Hannah Arendt: „Totale Herrschaft ist die einzige Staatsform, mit der es keine Koexistenz geben kann.“ (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 23. Aufl. Mai 2021, Piper München. S. 636)

Die Autoren haben uns überdies den Link zu einem Video geschickt, das eine Freundin beim Violinspiel in einem Keller von Charkow zeigt. Klicken Sie auf das Bild, um das Video zu starten.

Wera in Charkow

Beitrag #5 (16.03.2022) von Heidi Wagner

„Der ideale Zustand wäre natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen haben. Nichts anderes könnte eine so vollkommene und widerstandsfähige Einigung der Menschen hervorrufen, selbst unter Verzicht auf die Gefühlsbindungen zwischen ihnen. Aber das ist höchstwahrscheinlich eine utopische Hoffnung.“ (Sigmund Freud)

Von Heidi Wagner, Psychotherapeutin in Köln, kommt die Anregung, den berühmten Brief von Sigmund Freud an Albert Einstein von September 1932 im Rahmen dieses Blogs zur Verfügung zu stellen. Er wurde später unter dem Titel “Warum Krieg?” veröffentlicht. Das obige Zitat ist ein Auszug davon. Sie können sich den vollständigen Text mit dem hier hinterlegten PDF öffnen und herunterladen:  Freud_an_Einstein

Beitrag #6 (18.03.2022) von Uri Kuchinsky

„Die Vernichtung von Verwandlung ist der gemeinsame Nenner aller Kriege.“ (Wilhelm Salber) Die folgenden losen Anmerkungen beziehen sich auf den Krieg als Gestalt (- Auflösung). Kriege schlagen Löcher in die (ohnehin schon brüchigen, fragilen) Konstruktionen der Rationalität. Auf einmal obsessive, wahnhafte Wirkungsweisen mitbestimmend. (Wutreden, Anomalien; Putins „Audienzen“ am langen Tisch)

  • Kulturgeschichtlich treten Kriege ‚immer wieder’ auf. Das Erschrecken darüber. Dialektik von Zerstörung, Neuordnung und Aufbau. Die bisherige Nachkriegs-Ordnung wollte den bedenklichen Satz des (alten) Heraklit, wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei widerlegen. Leben wir denn noch in vergangen geglaubten Zeiten?
  • Laut dem Kriegstheoretiker Claus von Clausewitz hängen ‚Kriege’ und Empörung zusammen. Auch derjenige der den Krieg beginnt ist irgendwie empört, überzeugt von seinem Recht. Aber einen Krieg zu beginnen ist leichter als ihn zu beenden. Clausewitz spricht von den „Nebeln des Krieges“. Alexander Kluge schreibt: „ Sowie der Krieg ausbricht, ist alles unbestimmt. Dieses Nebelhafte… ist die Herausforderung.“
  • Europa hat versäumt den Krieg du denken. (Jullien) Beim Denken des Krieges ist Europa gescheitert. Der jetzige wirklich ausgebrochene Krieg (der sich von heute betrachtet lang anbahnende und schon schrittweise ausgebrochene Krieg) entspricht nicht den Modellen in denen gedacht war. Fassungsloses ‚wär hätte das gedacht?’. Nur auf anderer Seite wurde auf Krieg hin gedacht. Selbst die immense Aufrüstung hat nicht sonderlich beunruhigt. Der wirkliche Krieg verläuft selten wie der Modellkrieg. Bestellte Siege sind eher selten. Krieg ist die ständige Abweichung von der Planung. In seinem Verlauf ständiges Stolpern und Straucheln.
  • Der Krieg fern und nah zugleich wie nie. Jeder Mensch mit Smartphone eine Dokumentarfilmer/in.
  • Krieg mit altbekannten Bildern. Panzerkolonnen, Raketen, Soldaten, zerschossene Gebäude. – Was ist wahr, was gefälscht? Was überprüfbar was nicht? Real sind Zerstörungen, Belagerung, Todesangst und Not, territoriale Aneignung als Vormarsch auf den Karten. Gegenwehr. Paralleler „Cyberkrieg“ und „Informationskrieg“; schon vor Jahren losgegangen, aber relativ still. Desinformationskampagnen, Wahlbeeinflussungen, Hackerattacken. Propagandakrieg – Ausrichtung, Gleichschaltung, Zensur.
  • Abgesehen von aktiv eingesetzten „Kriegspsychologie“ (Drohungen, Erpressungen, Desinformation) und ihrer Helfershelfer, stochert auch die psychologische Expertise inmitten des Geschehens ebenso im Ungefähren wie alle Expertise. Es gibt aber auch Hinweise in Form kleiner Beobachtungen über Seelenlagen und psychischen Verfassungen Beschreibungen von Phänomene, die zu psychologische Überlegungen führen können, wie sich diese aktuelle WE „Krieg“ psychisch auswirkt. Krieg der vieles beschleunigt, vereinfacht, aufklärt, spaltet. Vergessene Worte auftauchen lässt. Krieg wird psychisch allgegenwärtig.
  • Je durchdringender eine Gestalt das Verhalten und Erleben von Menschen bestimmt desto heftiger wird die Fähigkeit zu einer distanzierenden und differenzierenden (wissenschaftlichen) Verfassung herausgefordert und als zweifelhaft erlebt. In welchem Masse werden Psychologen hineingerissen in die Wucht eines historischen Transformationsgeschehens?
  • Zugleich ist Krieg Inbegriff von Bestimmung und Vereinfachung und zugleich produziert er eine Inflation von Bildern, Geschichten und Bedeutungen. Im zeitlichen Schlepptau mehr oder minder rasch realisierbaren Folgen. (Explosionen, Flüchtlingsströme, steigende Energiepreise, Getreidepreise, weitere Kriegsfolgen, Hälfte des UNO-Welternährungsprogramms fällt aus)
  • Krieg mit Schurken und Helden. Der Schurke in Bildern von Distanz und Herrschaft, langer Tisch, riesige Palasträume, zugeknöpfte Einsamkeit, Reden durchdrungen von einer geschichtlichen Mission. Von langer Hand geplant, Revanchen.
  • Der Held in Bildern der Nähe, der Einfachheit, T-Shirt ohne Aufdruck, der ergreifenden Ansprachen, der „Diener seines Volkes“. Einer der über sich hinauswächst, „Führer der freien Welt“, Opferbereitschaft, Reden und Apelle als Waffe usw.
  • Zeit schichtet sich um. – Alltag geht weiter, etwas verrückt. Bierflaschen zu Molotowcocktails. Im Krieg wird es brutal und heroisch. Opferproduktion läuft auf zu einem hochtourigen Geschehen. Wie abwenden?
  • “Wir können unsere Probleme nicht mit demselben Denken lösen, welches wir gebrauchten, als wir sie produzierten“. Albert Einstein.

Beitrag #7 (18.03.2022) von Daniel Salber

Der zerstückelte Bruder
Der Krieg in der Ukraine und das Märchen vom Machandelboom

Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine stellt die Welt vor eine neue Lage. Angesichts der massiven Zerstörungen und der barbarischen Kriegführung versagen die üblichen Erklärungsmuster. Der abrupte Zivilisationsbruch schockiert die Welt. Um eine Orientierung zu finden, können Sinn-Bilder helfen. Kulturelle Wendepunkte und ihre Dramatik lassen sich durch Märchen ins Bild rücken. So deutete Wilhelm Salber den Allmachts-Anspruch der Technokultur anhand des Märchens vom Meerhäschen (anders 22/2015). Die Frage ist, durch welches Märchen die gegenwärtige Entwicklung anschaulich und verständlich werden kann. Als Hypothese möchte ich das Märchen vom „Machandelboom“ vorschlagen. Dieses Märchen veranschaulichte für Wilhelm Salber die Grundstruktur des Stalinismus (Seelenrevolution, 1993, S. 172). Vieles spricht dafür, dass Putin eine Erneuerung des totalitären Staates betreibt. Die Gefahr besteht also, dass die Welt mit einer Wiederkehr des Dramas rechnen muss, das im Märchen vom „Machandelboom“ erzählt wird.

Eine Mutter stirbt vor Freude bei der Geburt ihres Jungen; ihr Mann begräbt sie unter einem Wacholderbaum (Machandelboom). Er heiratet eine Frau, mit der er eine Tochter bekommt – die Kinder verstehen sich, aber die Frau hasst den ihr ‚fremden‘ Jungen. Weil sie alles ihrer eigenen Tochter vermachen will, ermordet sie in einer Art Raserei den Jungen. Sie inszeniert den Mord jedoch so, dass ihr eigenes Kind sich die Schuld zuschreibt. Die Mörderin setzt den zerhackten und gekochten Jungen dem Vater und der Stiefschwester zum Essen vor. Das Schwesterchen sammelt die Knochen und begräbt sie unter dem Wacholderbaum, dem ein schöner Feuervogel entsteigt. Mit seinem freudvollen Gesang gewinnt er Menschen dafür, ihm eine Goldkette (für den Vater), rote Schuhe (für das Mädchen) und einen Mühlstein zu schenken: Mit dem Mühlstein tötet der Vogel die Stiefmutter. Daraufhin wird der ermordete Junge wieder lebendig (Zusammenfassung nach W. Salber, Märchenanalyse, 3. Aufl. 2018, S. 105).

In seiner Analyse stellt W. Salber als Kern des Märchens „diffuse Totalitäts-Ansprüche“ heraus. Ein großes Ganzes soll das Leben bis ins Einzelne bestimmen – was sich dem nicht fügt, wird gewaltsam beseitigt. Das Gleichmachen scheitert jedoch an der Fülle und Verschiedenartigkeit dessen, was als störend beseitigt werden muss. Als Fallbeispiel beschreibt W. Salber einen selbstunsicheren Mann, der mit einer „Privatmythologie“ die Welt in Gut und Böse einteilt, feste Erwartungen hegt und Entschuldigungen parat hat, falls ihm etwas daneben geht. Auffällig sind gewaltsames Vorgehen und rigoroses Einteilen im Alltagsleben. Liebe und Beruf gelingen dem Mann erst, als er die „Flucht vor der Vielheit“ aufgibt und darauf vertraut, dass sich Verschiedenartiges ergänzt (z.B. Bruder und Schwester im Märchen) und ein lebendiges Ganzes nicht durch Gewalt, sondern durch Teilen und Kooperation entstehen kann.

„Diffuse Totalitäts-Ansprüche“ sind beim russischen Diktator spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine nicht zu übersehen. Der Versuch, den jungen und „fremden“ Nachbarstaat zu zerstückeln, um alles für sich zu haben, sowie die Schuldzuweisung an Andere gehören zum Repertoire des neuen wie des alten Totalitarismus. Das große Gleichmachen findet statt durch Beseitigung störender Menschen, abweichender Medien und Meinungen, durch einseitige ideologische Propaganda, durch dreiste Lügen und Verbreitung von Terror. Ähnlich wie im Märchen herrschen Raserei und Gefühlskälte, Menschenleben sind völlig gleichgültig. Unter Putin schwindet alle Freude aus dem Leben. Das Zerhacken organisch gewachsener Strukturen versinnlicht das Märchen im monotonen „Hick Hack“ und „Klippe Klappe“ einer Mühle – das Leben im erzwungenen, ideologisch vorgeformten Ganzen verfällt in tote Wiederholungen und Mechanik.

Neben dem totalitären „Gleichmachen“ kennt das Märchen aber auch die Seite des „Mehr-Werdens“ (W. Salber). Da wäre zuerst der Wacholderbaum zu nennen, dessen Wachsen und Wandel die ganze Geschichte zusammenhält (sozusagen das ‚Mutterland‘). Die gesammelten Knöchelchen des Bruders verwandeln sich in den schönen Vogel, der dem Baum entsteigt, den Menschen Freude macht und ihnen die wahre Geschichte zu Gehör bringt. Der Feuervogel verwandelt sich nach dem Tod der Stiefmutter wieder zurück in den Jungen. Was ermordet und verdrängt wurde, kehrt in bunten, sinnlichen Formen kraftvoll zurück.

Offensichtlich hat der Diktator die Stärke dieses „Mehr-Werdens“ unterschätzt – sein blinder Fleck. Die Stärke geschichtlich gewachsener Strukturen, der Aufstand der bedrohten Vielfalt, das freie Zusammenwirken von Menschen und ihre „schöne“ Wandlungsfähigkeit. Daran ist Putins Blitzkrieg gescheitert. Nur durch anschwellendes „Hick Hack“ und „Klippe Klappe“ seiner Mordmaschine kann er jetzt noch siegen.

Und er wird siegen, wenn es der „pluralistische“ Westen weiterhin nicht fertigbringt, Vielfalt und Mehr-Werden in der Ukraine zu schützen. Das Problem ist, dass auch die „westliche“ Welt nach der Phase des „Alles-Geht“ zu einem Totalitarismus tendiert, zu einer globalen Gleichmachung im Rahmen des Techno-Finanzkapitalismus. Dementsprechend gab es flugs finanzielle „Sanktionen“. Der Völkermord ist damit freilich nicht aufzuhalten, aber solange er das Geschäft nicht schädigt, schaut man ihm aus sicherer Distanz weiter zu. Die Ukraine hat das Pech, zwischen zwei imperialistische Mühlsteine geraten zu sein. Beide Seiten nehmen ganz offensichtlich Massenmorde und Zerstörungen bedeutender Kulturzentren in Kauf. Daher wäre es falsch, die Rolle der bösen Stiefmutter allein Putin zuzuschreiben. Auch der „Westen“ benimmt sich wie eine kalte Stiefmutter. Die Ideologie der unschuldigen Hände und geschürte Weltkriegs-Ängste liefern nur Vorwände, um das inhumane Nichtstun zu rechtfertigen und den Geschäftsbetrieb möglichst störungsfrei weiterzuführen. Hick Hack, Klippe Klappe. Zu befürchten ist, dass der ungebremste Totalitarismus Putins früher oder später sowieso auf andere Staaten übergreifen wird.

Der „Machandelboom“ macht jedoch Hoffnung – auf überdauernde organische Entwicklungen, auf eine treue Schwester, auf einen singenden Feuervogel und gut zuhörende Helfer. Diese Richtung des Märchens bezeichnete Wilhelm Salber als „ästhetischen“ Prozess. Der Totalitarismus (in Ost und West) kann an der menschlichen Ästhetik scheitern: an sinnlicher Vielfalt und kunstreicher Wandlungsfähigkeit seiner Opfer. Ihr spontanes Zusammenwirken und ihr Erfindungsreichtum können der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Die Alternative ist nicht Atomkrieg oder Nichtstun. Statt in diesem Alles-oder-Nichts Dilemma, das Putin aufgestellt hat, stecken zu bleiben, können ästhetische Zwischenlösungen gewagt werden. Die Situation ist nur scheinbar („politisch“) vertrackt: menschlich geht es einfach darum, ein Verbrechen zu stoppen, das Menschen ‚wie Dich und mich‘ betrifft, unsere Brüder – völlig gleichgültig, ob uns irgendwelche politischen Landesgrenzen trennen oder das Benzin teurer wird. Der Schluss des Märchens ist eine befreiende Gewalttat. Erst als die Stiefmutter durch einen Mühlstein erschlagen wird, kommt das Kind ins Leben zurück. Schöne Gesänge allein reichen nicht.

 

Beitrag #8 (18.03.2022) von Linde Salber

Was treibt Putin an?
Anja Martini (tagesschau) im Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel

In dem zwanzigminütigen Interview analysiert der Osteuropahistoriker Karl Schlögel die psychologischen und historischen Hintergründe der russischen Invasion in die Ukraine. Er stellt heraus, dass es dem Präsidenten Russlands offenbar darum gehe, dem Aufwand einer Umstrukturierung des alten imperialen Russlands aus dem Wege zu gehen. Stattdessen verstehe er sich darauf, die Schwächen seiner Gegner auszumachen, auszunutzen und seinen eigenen territorialen Einfluss auszuweiten. Linde Salber hat uns auf dieses Interview aufmerksam gemacht.

https://www.tagesschau.de/multimedia/video/ts24/schwerpunkt/video-997439.html

Beitrag #9 (29.03.2022) von Uri Kuchinsky

Rotation

Im Buch „Seelenrevolution“ formuliert Salber in Bezug auf Krieg zwei grundsätzliche Aussagen. Die erste Aussage lautet: „Es gibt nicht den Krieg“,… „es gibt keinen Krieg an sich“, sondern „notwendig verschiedene Sorten und Richtungen von Kriegen“.

Daraus ergibt sich die Frage: Mit welcher Sorte hat man es beim Krieg in der Ukraine zwischen Russland und der Ukraine zu tun? Mit welchen Richtungen? Wofür ist dieser spezifische Krieg eine Lösung? Wovon löst sich dieser Krieg?

Diese Fragen sind nicht ohne weiteres zu beantworten – wenn überhaupt – weil sich dieser Krieg inmitten der aktuellen Weltzeit entwickelt, und er folgt bislang der Form einer Eskalationsspirale.

Der Krieg dreht sich in vielen Dimensionen und Facetten in die Wirklichkeiten hinein, mit einer zugespitzten „Rotation, die vom Monströsen herkommt“. (W. Salber) Der aktuelle Krieg entwickelt sich im größeren Format mit dem Potential zum Megaformat und gehört zu den Kriegen, die sich nur bedingt einsortieren lassen, weil man es mit ihnen noch nie in real-time zu tun hatte. (Die strategischen Szenarien der Generalsstäbe aller Länder und die historischen Vergleiche mal außen vor gelassen.).

„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, lautet die wohl bekannteste Aussage des Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz. An diese knüpft Salber mit seiner zweiten Aussage an, versieht sie jedoch mit psychomorphologischem Twist. (Als transitives Verb übersetzt: umdrehen zusammendrehen, zwirnen verflechten, verschlingen, eng verbinden winden, flechten, wickeln, winden, binden, umwickeln, umwinden, verdrehen, verkrümmen, verzerren, entstellen, verdrehen, quälen, peinigen, foltern, verwirren und mehr):

„Kriege sind Fortsetzungen der <Politik> verschiedenartiger Lebens-Bilder, die andere Verwandlungen nicht leiden mögen und ihnen den Tod bringen möchten“. Es kämpfen nun im Krieg aber nicht nur „Lebensbilder“ miteinander, sondern Menschen und Systeme. Man möchte nicht nur anderen Verwandlungen den Tod bringen, sondern den Menschen in den Kriegsgebieten. Psychologie gehört – das kann sie selber gar nicht bestimmen – zu den Wissenschaften vom Menschen.

Bild von Linde Salber

Beitrag #10 (03.04.2022) von Daniel Salber

Wie tief wird Deutschland noch sinken?

Der Kanzler bettelt bei einem Massenmörder um Erdgas. Vor aller Augen werden europäische Städte in Schutt und Asche gelegt. Menschen sterben zu Tausenden in den Trümmern oder im Kampf gegen die materiell überlegenen Angreifer. Und Deutschland lässt das zu – ausgerechnet das Land, das aus eigener Erfahrung doch wissen müsste, was Kriege und Bomben bedeuten, das doch wissen müsste, wozu ein Terror-Regime fähig ist, wenn man ihm militärisch keinen Einhalt gebietet!

Die einzige Sorge scheint hierzulande, dass Energiepreise steigen und die Wirtschafts-Lage sich eintrüben könnte. Täglich jammernde Unternehmer im TV – ihre Klagen wirken völlig losgelöst vom Gemetzel, das die russische Armee in der Ukraine anrichtet, so als handele es sich um ärgerliche Konjunkturschwankungen und nicht um einen Angriffs-Krieg, der von Deutschland eine klare Parteinahme und womöglich gewisse Opfer erfordert. Trägt doch Deutschland eine Mitschuld an diesem Krieg, da es gemeinsam mit seinen „Partnern“ die Aufnahme der Ukraine in die Nato verhinderte, was Putin freie Bahn gab.

Dem hart bedrängten Land bietet man jetzt nicht einmal die Aussicht auf einen zeitnahen EU-Beitritt. Noch würdeloser: nach der Ansprache des ukrainischen Präsidenten fand der Deutsche Bundestag keine Zeit für eine Aussprache. Hat ein Deutschland, das so von Egoismus, Habsucht und Herzlosigkeit regiert wird, nicht den eigenen Untergang verdient?

Deutschland lässt es zu, dass unweit seiner Grenze sämtliche kulturellen Freiheiten, alle Menschen- und Völker-Rechte, die in Jahrhunderten seit der Renaissance und der französischen Revolution errungen wurden, mit Füßen getreten werden. Die vielbeschworene „freiheitliche Demokratie”, ja die ebenso oft angerufene „Vernunft” schauen ihrer eigenen Vernichtung zu. Der immer noch (relativ) freiheitliche Westen duldet die gewaltsame Ausbreitung eines neokolonialen, totalitären Imperialismus in Europa. Neben der humanitären Katastrophe in der Ukraine ist das die kulturelle Katastrophe. Wie konnte es so weit kommen?

Nicht nur in Russland, sondern offensichtlich auch im Westen wurden die „Grundwerte“ von Rationalität, individueller Freiheit und Menschenwürde zu leeren Worthülsen. Die unumschränkte Herrschaft von Finanzkapital, Technologie und Bürokratie – Globalisierung genannt – hat die geschichtlichen Wurzeln der Moderne untergraben. Glasfaserkabel sind mittlerweile wichtiger als Krankenhäuser und Kindergärten. Wenn aber Geld-Maximierung als oberster Wert gilt, sind Menschen nur Mittel zum Zweck. Der Grundsatz der Aufklärung, dass Menschen nie bloß als Mittel gebraucht werden dürfen, geriet still und heimlich außer Kurs. Da heute überwiegend „die Wirtschaft“ regiert, setzen die gewählten Politiker die Regierungsgeschäfte fort, ohne wirkliche Macht zu besitzen und ohne die Nation zu führen. Unordnung, Desorientierung und diffuse Wut sind die Folgen.

Nicht nur in Putins Russland, auch hierzulande ist die „Zerstörung der Vernunft“ weit fortgeschritten. Corona-Leugner, Impfgegner, Verschwörungs-Gläubige und sog. „Querdenker“ sind nur die Spitze eines „trendigen“ Irrationalismus. Ähnlich irrational handelt beispielsweise die Autoindustrie. Obwohl Energie- und Klimaprobleme seit Jahrzehnten bekannt sind, wird die Massenproduktion energie- und ressourcenverschwendender Fahrzeuge („SUVs“) bis heute angekurbelt. Dementsprechend kommt ein Tempolimit nicht infrage, um von russischer Energie unabhängig zu werden. Deutschlands „Freiheit“ liegt in Tempo 120plus! Genau das ist die Zerstörung der Vernunft im Westen. Und diesen Verfall hat Putin gespürt und bislang erfolgreich ausgenutzt.

Wohl unter Schock hatte der Kanzler Ende Februar 2022 von „Zeitenwende“ gesprochen. Inzwischen ist die „Zeitenwende“ wieder abgeblasen, Deutschland rudert mit aller Kraft zum Business as usual zurück. Ein paar Sanktionen, die nichts kosten, schrottreife NVA-Waffen (drei Wochen verspätet) und ein bisschen Kleinmaterial für die Ukraine, viele Solidaritäts-Parolen und symbolische Finanzhilfe – mehr will das reiche Deutschland nicht tun. Metalle aus Russland werden von Sanktionen ausgenommen: „zum Schutz der Wirtschaft“. Geld geht hierzulande über Verstand und Anstand; darum wurde Deutschland zum Bremsklotz des europäischen Widerstands gegen Putins Regime.

Gegen die Ermordung tausender Menschen in Mariupol unternimmt der Kanzler nichts. Nicht einmal ein Energie-Embargo, denn Erdgas wird ja zur Herstellung von Autoglas gebraucht. Aber ist das nicht blutiges Autoglas? Wollen das die Deutschen wirklich? Die Chance, die Bürger zum entschlossenen Widerstand gegen Putin einzustimmen, sollte er auch Opfer fordern, wurde in den Wochen nach Kriegsbeginn vertan. Daher jetzt das Gejammer der Gummi- und Autoproduzenten. Zur Beruhigung spannt der Kanzler für uns einen Raketenschirm auf. Exklusiv für uns Deutsche! Damit wir es uns auf der Couchgarnitur gemütlich machen und sorglos zuschauen können, wie russische Raketen die blühende Stadt Charkiw verwüsten. Ist das wirklich Deutschland?

Putins Atomkriegs-Drohung und die pazifistische Ideologie der 80er Jahre liefern den willkommenen Vorwand, weiterhin Geld zu scheffeln, ohne riskante Aktionen für „Demokratie und Freiheit“ unternehmen zu müssen. Wolfgang Thierse sprach von „Pazifismus auf Kosten der anderen“. Dem entschlossenen Nichts-Tun entsprechend zeichnen sich unsere Militär-Strategen durch vollendete Phantasielosigkeit aus. So etwas wie die Berliner Luftbrücke (1948) wäre heute kaum denkbar. Damals riskierten die Amerikaner, dass ihre Flugzeuge von der UdSSR abgeschossen wurden, sie riskierten sogar einen dritten Weltkrieg. Heute sind Luftbrücken, Flugverbotszonen, Friedenstruppen, Sicherung der Evakuierung usw. nicht einmal mehr der Diskussion würdig. Mit nebulösen „Konsequenzen“ droht die Nato allenfalls, sollte Russland ABC-Waffen einsetzen – die Zerstörung einer großen Hafenstadt und Ermordung tausender Zivilisten bleibt ohne jede Konsequenz.

Neulich habe ich mir den Film „Judgment at Nuremberg“ (1961) angesehen. Ein mutiger US-Richter verhängt Lebenslänglich für vier Nazi-Richter – obwohl ihm aus politischen Gründen dringend ein Freispruch nahegelegt wird (die USA brauchten 1948 Westdeutschlands Unterstützung gegen die UdSSR). Solche Menschen wie dieser Richter scheinen spurlos verschwunden. Vielleicht kommt es aber doch noch zu einer „Zeitenwende“ infolge des russischen Angriffskrieges: eine „Selbstbehauptung des Menschen“ (Karl Jaspers) nach dem Geldrausch der sog. Globalisierung. Gibt Putins furchtbarer Krieg den Europäern die Chance, sich auf ihre eigenen Grundwerte zu besinnen und eine Wiedergeburt unserer Kultur im Geiste von Aufklärung und Menschlichkeit zu wagen? Findet Deutschland wieder zu Herz und Verstand? Oder hat Putin schon gesiegt?

 

Bild von Linde Salber 20.04.22

 

Beitrag #11 (09.04.2022) von  Patrick Lindner

Auswirkungen auf das menschliche Dasein?

Der Ukraine-Krieg schafft es jeglichen Halt zu zerstören / aufzulösen. Insbesondere nach zwei Jahren Corona erscheint die seelische Unruhe und Suche nach einer Alltags-/Lebensgestalt umso dramatischer – die Frage steht im Raum: Wohin soll es gehen?

Es kann sich auf nichts mehr verlassen werden, die eigene Wahrnehmung der Welt und des Lebens wird in Ihren Grundpfeilern / -werten erschüttert.

Putin, zuvor ein Schattenbild, tritt nun ins Profil und zugleich auch nicht – die Bürger fragen sich: Wer ist der Mann? Wie ist er einzuschätzen? Ist er ein Monster oder hat er tatsächlich recht? Er scheint absolut unberechenbar zu sein und zugleich ist er es doch – es wird damit gerechnet, dass er niemals aufhören wird und nur der Tod von Putin oder die Kapitulation der Ukraine das Grauen beendet und eine neue Form entstehen lässt. So ist es aktuell scheinbar übergreifend nicht möglich eine klare Gestalt von dem Grauen zu bilden und sich einen Umgang mit dieser zurechtzulegen. Es entsteht der Wunsch nach der Bildung einer (vorübergehenden) Form – dabei ist es schon fast egal, ob Putin gewinnt oder verliert, Hauptsache man erhält eine Form, damit sich nicht mehr als Spielball gefühlt wird.

In diesem Sinne zeigen sich erste Ansätze einer Fetischbildung: Russland das alte Feindbild tritt wieder als solches in das Weltgeschehen ein! Es kommt zu Projektionen. Die eigene Wut darüber, ausgeliefert zu sein und kurz vor dem Platzen zu stehen, wendet sich in eine Wut auf russische Bürger (z.T. auch in Deutschland). Als Gegentendenz tritt die Moral auf: „Das russische Volk kann dafür ja nichts.“

Weitere Ängste kommen auf – plötzlich wieder Flüchtlinge: Gehen diese dann diesmal auch wieder zurück? Dennoch ist man den Frauen und Kindern wohlgesonnen. Sie sind ja quasi „weiß“. Es zeigt sich ein faszinierendes Verhältnis von Eigenem und Fremden. Der Krieg macht plötzlich mehr betroffen und erscheint als ein Ereignis ohne Gleichen zu sein – plötzlich wird man in Europa davon betroffen! Kriege in der Welt scheinen nicht so stark zu betreffen, immerhin ähneln diese Länder Deutschland nicht. Die Menschen dort sind „anders“ – im gleichen Zug wird auf eine Kategorisierung von ‚guten‘ Flüchtlingen (2022) und ‚bösen‘ Flüchtlingen (2015) zurückgegriffen.

Eine umfassende Leere breitet sich aus. Wohin soll es gehen? Was kann danach überhaupt noch kommen? Schrecken und Hoffnungsschimmer wechseln sich ab und halten das Drama am laufen. Das Grauen und die Angst um das eigene Leben, sind allgegenwärtig. Die Angst der Deutschen ist am ehesten spürbar am Supermarktregal – man sieht mögliche Einschränkungen im Konsum! So wird der letzten Packung Mehl hinterhergerannt, noch zwei Flaschen Öl dem Lagermitarbeiter abgenommen. Auch wenn man diese in den letzten zwei Jahren zuvor nicht einmal benötigt hat. Und gleichzeitig wird sich über Hamsterkäufer lustig gemacht, dabei wird die ganze Zeit (in einem für einen selbst vertretbaren Rahmen) angehäuft – möchte sich jedoch nicht plakativ in die Ecke der Panikkäufer stellen.

Das Grauen des tatsächlichen Krieges rückt immer mehr in den Hintergrund – das Grauen hält Einzug im eigenen Leben. Wie kann es nur mit der Wirtschaft weitergehen? Steigende Benzin-, Gas- und Lebensmittelpreise lassen Existenzängste aufkommen. Aber noch kann demonstriert werden, dass es einem selbst noch gut geht! Ist das der Beginn einer erneuten Ellbogenmentalität (unter dem Mantel einer vermeintlichen Solidarität)? Survival of the fittest. Das Grauen im heimischen Supermarkt nimmt Überhand – dagegen erscheint das Grauen des eigentlichen Krieges gut ertragbar – die Bilder und Nachrichten kann man ausblenden. Und dennoch erscheint beides gleich: Es geht um das nackte Überleben! Das Supermarktregal zeigt erneut (wie bei Corona) den Zerfall des eigenen, unantastbaren Wohlstandbildes (im Rahmen des Konsums) – man sieht sich dem (Konsum-)Tod ausgeliefert.

Der drohende Tod / die drohende Zerstörung des eigenen Lebens wird insgeheim mit der Zerstörung der Ukraine gleichgesetzt. Doch darf man dies überhaupt denken – geschweige denn – aussprechen? Was ist mit den Menschen in der Ukraine, die Unaussprechliches erleiden müssen? Der moralisch-gute Mensch darf das (emotionale) Grauen scheinbar nicht gleichsetzen. Es wird sich versagt dies zuzugestehen, auch wenn die Wirkung und das Verhalten anderes zeigt.

Das Faszinierende und Schmerzvolle bei der Auseinandersetzung mit dem Ukraine-Krieg ist, dass man eigene Seiten erkennt, die verborgen hätten bleiben sollen. Ist man z.B. tatsächlich pazifistisch oder ist man doch in der Lage, ein anderes Leben zu nehmen? Dies führt zum Dilemma, einer inneren Zerrissenheit: Was muss geopfert werden, um zu überleben? Die eigenen Werte / die eigene Moral? Die Solidarität? Die eigenen Emotionen und Menschlichkeit?

Es ist bereits eine Abkapselung zu bemerken – es wird zunehmend schwieriger, sich den eigenen Gefühlen, Ängsten, Sorgen, selbst den eigenen Wünschen (!) zu stellen. Alles wird grau und festgehalten. Wo ist der Mensch? Wo ist das Leben? Unter allem Umständen soll der eigene Alltag in seiner vorherigen Form festgehalten werden – wenn schon alles auseinanderbricht.

So zeigt sich ein Aktivismus in Formen von Solidaritätsbekundungen, kritischen Auseinandersetzungen und regelrechtem „mobilmachen“ (durch Anhäufung und Vorbereitung auf das Schlimmste), um das eigene Leben in Form zu halten. Eine tatsächliche Aktivität und Beherrschung / Teilnahme ist jedoch nur bedingt möglich – dies setzt voraus, dass sich mit den eigenen Ängsten und Gefühlen (dem eigenen Dasein) auseinandergesetzt wird (sei es als Einzelperson, oder als Institution).

Die in Ansätzen zu bemerkende Abkapselung eröffnet die abschließende Frage: Welche Auswirkungen hat das Dilemma um den Erhalt und Verlust der eigenen Menschlichkeit auf unsere Kultur?

Beitrag #11 (09.04.2022) von  Patrick Lindner

Auswirkungen auf das menschliche Dasein?

Der Ukraine-Krieg schafft es jeglichen Halt zu zerstören / aufzulösen. Insbesondere nach zwei Jahren Corona erscheint die seelische Unruhe und Suche nach einer Alltags-/Lebensgestalt umso dramatischer – die Frage steht im Raum: Wohin soll es gehen?

Es kann sich auf nichts mehr verlassen werden, die eigene Wahrnehmung der Welt und des Lebens wird in Ihren Grundpfeilern / -werten erschüttert.

Putin, zuvor ein Schattenbild, tritt nun ins Profil und zugleich auch nicht – die Bürger fragen sich: Wer ist der Mann? Wie ist er einzuschätzen? Ist er ein Monster oder hat er tatsächlich recht? Er scheint absolut unberechenbar zu sein und zugleich ist er es doch – es wird damit gerechnet, dass er niemals aufhören wird und nur der Tod von Putin oder die Kapitulation der Ukraine das Grauen beendet und eine neue Form entstehen lässt. So ist es aktuell scheinbar übergreifend nicht möglich eine klare Gestalt von dem Grauen zu bilden und sich einen Umgang mit dieser zurechtzulegen. Es entsteht der Wunsch nach der Bildung einer (vorübergehenden) Form – dabei ist es schon fast egal, ob Putin gewinnt oder verliert, Hauptsache man erhält eine Form, damit sich nicht mehr als Spielball gefühlt wird.

In diesem Sinne zeigen sich erste Ansätze einer Fetischbildung: Russland das alte Feindbild tritt wieder als solches in das Weltgeschehen ein! Es kommt zu Projektionen. Die eigene Wut darüber, ausgeliefert zu sein und kurz vor dem Platzen zu stehen, wendet sich in eine Wut auf russische Bürger (z.T. auch in Deutschland). Als Gegentendenz tritt die Moral auf: „Das russische Volk kann dafür ja nichts.“

Weitere Ängste kommen auf – plötzlich wieder Flüchtlinge: Gehen diese dann diesmal auch wieder zurück? Dennoch ist man den Frauen und Kindern wohlgesonnen. Sie sind ja quasi „weiß“. Es zeigt sich ein faszinierendes Verhältnis von Eigenem und Fremden. Der Krieg macht plötzlich mehr betroffen und erscheint als ein Ereignis ohne Gleichen zu sein – plötzlich wird man in Europa davon betroffen! Kriege in der Welt scheinen nicht so stark zu betreffen, immerhin ähneln diese Länder Deutschland nicht. Die Menschen dort sind „anders“ – im gleichen Zug wird auf eine Kategorisierung von ‚guten‘ Flüchtlingen (2022) und ‚bösen‘ Flüchtlingen (2015) zurückgegriffen.

Eine umfassende Leere breitet sich aus. Wohin soll es gehen? Was kann danach überhaupt noch kommen? Schrecken und Hoffnungsschimmer wechseln sich ab und halten das Drama am laufen. Das Grauen und die Angst um das eigene Leben, sind allgegenwärtig. Die Angst der Deutschen ist am ehesten spürbar am Supermarktregal – man sieht mögliche Einschränkungen im Konsum! So wird der letzten Packung Mehl hinterhergerannt, noch zwei Flaschen Öl dem Lagermitarbeiter abgenommen. Auch wenn man diese in den letzten zwei Jahren zuvor nicht einmal benötigt hat. Und gleichzeitig wird sich über Hamsterkäufer lustig gemacht, dabei wird die ganze Zeit (in einem für einen selbst vertretbaren Rahmen) angehäuft – möchte sich jedoch nicht plakativ in die Ecke der Panikkäufer stellen.

Das Grauen des tatsächlichen Krieges rückt immer mehr in den Hintergrund – das Grauen hält Einzug im eigenen Leben. Wie kann es nur mit der Wirtschaft weitergehen? Steigende Benzin-, Gas- und Lebensmittelpreise lassen Existenzängste aufkommen. Aber noch kann demonstriert werden, dass es einem selbst noch gut geht! Ist das der Beginn einer erneuten Ellbogenmentalität (unter dem Mantel einer vermeintlichen Solidarität)? Survival of the fittest. Das Grauen im heimischen Supermarkt nimmt Überhand – dagegen erscheint das Grauen des eigentlichen Krieges gut ertragbar – die Bilder und Nachrichten kann man ausblenden. Und dennoch erscheint beides gleich: Es geht um das nackte Überleben! Das Supermarktregal zeigt erneut (wie bei Corona) den Zerfall des eigenen, unantastbaren Wohlstandbildes (im Rahmen des Konsums) – man sieht sich dem (Konsum-)Tod ausgeliefert.

Der drohende Tod / die drohende Zerstörung des eigenen Lebens wird insgeheim mit der Zerstörung der Ukraine gleichgesetzt. Doch darf man dies überhaupt denken – geschweige denn – aussprechen? Was ist mit den Menschen in der Ukraine, die Unaussprechliches erleiden müssen? Der moralisch-gute Mensch darf das (emotionale) Grauen scheinbar nicht gleichsetzen. Es wird sich versagt dies zuzugestehen, auch wenn die Wirkung und das Verhalten anderes zeigt.

Das Faszinierende und Schmerzvolle bei der Auseinandersetzung mit dem Ukraine-Krieg ist, dass man eigene Seiten erkennt, die verborgen hätten bleiben sollen. Ist man z.B. tatsächlich pazifistisch oder ist man doch in der Lage, ein anderes Leben zu nehmen? Dies führt zum Dilemma, einer inneren Zerrissenheit: Was muss geopfert werden, um zu überleben? Die eigenen Werte / die eigene Moral? Die Solidarität? Die eigenen Emotionen und Menschlichkeit?

Es ist bereits eine Abkapselung zu bemerken – es wird zunehmend schwieriger, sich den eigenen Gefühlen, Ängsten, Sorgen, selbst den eigenen Wünschen (!) zu stellen. Alles wird grau und festgehalten. Wo ist der Mensch? Wo ist das Leben? Unter allem Umständen soll der eigene Alltag in seiner vorherigen Form festgehalten werden – wenn schon alles auseinanderbricht.

So zeigt sich ein Aktivismus in Formen von Solidaritätsbekundungen, kritischen Auseinandersetzungen und regelrechtem „mobilmachen“ (durch Anhäufung und Vorbereitung auf das Schlimmste), um das eigene Leben in Form zu halten. Eine tatsächliche Aktivität und Beherrschung / Teilnahme ist jedoch nur bedingt möglich – dies setzt voraus, dass sich mit den eigenen Ängsten und Gefühlen (dem eigenen Dasein) auseinandergesetzt wird (sei es als Einzelperson, oder als Institution).

Die in Ansätzen zu bemerkende Abkapselung eröffnet die abschließende Frage: Welche Auswirkungen hat das Dilemma um den Erhalt und Verlust der eigenen Menschlichkeit auf unsere Kultur?

Beitrag #12 (18.05.2022) von Uri Kuchinsky

Reflexionen über Krieg und Frieden

In Russland ist es ab dem 24. Februar 2022 bei Strafe verboten diesen Krieg „Krieg“ zu nennen, oder Angriff, oder Invasion. Die Gefängnisse werden voller.

„Es gibt Wörter, die sind so groß, dass man ganze Völker in ihnen einsperren kann.“ (S. J. Lec)

Jetzt mal nicht von Gestalten des Krieges her, von Kriegslogik, sondern ansatzweise von den noch schwierigeren des Friedens her, von Friedenslogik aus gedacht.
Frieden scheint psychologisch schwieriger zu fassen. Eine zu große wabernde Ganzheit. Die diversen Kitschproduktionen mal beiseitegelassen. Der Wunsch nach Frieden kann z.B. die Gestalt einer Bewegung annehmen, die sich als solche bezeichnet und sich für besonders qualifiziert erachtet, mit allem Drum und Dran. (Geschichten der Mobilisierung, Parolen, Symbole etc.) Da wird um Frieden gekämpft. Egal ob alter oder neuer Frieden. Frieden lässt sich prinzipiell (argumentativ) leichter als überlebensnotwendig erweisen.
Von Krieg zu schreiben, ihn zu beschreiben fällt leichter als vom Frieden. In Kriegszeit bekommt jedes Sprechen vom Frieden einen appellativen Touch. Von dort aus wo nicht geschossen wird, lässt sich besser für Frieden argumentieren.

Von Krieg zu schreiben, ich wiederhole mich, fällt leichter als vom Frieden. Da helfen zerstörerische Ungeheuerlichkeiten und aufbauender Pathos. („The Ghost of Kiew“).

Dass Kriege im 21. Jahrhundert noch immer als notwendig legitimiert werden können
– Ausnahme: Selbstverteidigung – hätte Kant im Vertrauen auf Vernunft und auf „Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und dem Ziel des „ewigen Friedens“ im Sinn vermutlich weniger für möglich gehalten.
Dass die Vernichtungstechnik, die dann manchen Kriegsparteien zur Verfügung steht in die Aporie einer atomaren Abschreckung münden würde, vermutlich auch nicht.
Günther Anders hat 10 Jahre nach den Abwürfen der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki in seinem Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“ eine drastische Warnung zur darauffolgenden und andauernden Weltlage nach dem 2. Weltkrieg ausgesprochen.

Solange Krieg herrscht, drängelt sich diese Gestalt mit den ungeheuren und auch Lappalien haften und symbolisch aufgemotzten Auswirkungen ungebrochen vor. Bis in den European Song Contest 2022. Weniger nebensächlich vielleicht dass die Parole no politics! im Unterhaltungs- und Sportbereich bröckelt. Im Krieg mischt sich Politik – weil immer auf Stimmungen der Bevölkerungen geschaut wird – nicht mehr so verschämt in diese Bereiche ein. Dirigenten werden ausgeladen, Künstlerinnen und Sportlerinnen werden boykottiert, Solidaritätskundgebungen werden abgehalten. Das Geschehen wird, mehr als sonst, zurecht gemacht.

Im Gegensatz zur relativen, brutal-banalen Einfachheit der Kriegslogik mit ihren Dichotomien – (Freund/Feind; Sieg/ Niederlage; usw.) – wird die Friedenslogik in erster Linie von Vielfalt und Vervielfältigung, von Mischformen, offenen Metamorphosen bzw. Metamorphosen der Offenheit dominiert, angetrieben von der Fülle des gelebten Lebens.
Die Crux dabei ist: die Gestalt des Friedens tritt vor allem dann deutlich in Erscheinung, wenn sie bedroht ist. (Analoges ließe sich auch von Demokratie behaupten).

Ein Krieg bricht aus (angekündigt oder nicht), bekommt ein festes Datum zugewiesen und erst wenn er sich erschöpft, wird um den Frieden und dessen Bedingung verhandelt. (‚Hinter den Kulissen’ wird permanent meist über Dritte verhandelt. Kriegsgefangenenaustausch, „Humanitäre Korridore“, usw.). Je nach Situation kann das Verhandlungsergebnis einfach diktiert werden. Wenn etwa eine Seite zur Kapitulation gezwungen wurde.

Begrifflich changieren sowohl Krieg als auch Frieden. Einerseits konturieren sie sich gegenseitig, andererseits teilen sie aber auch nebelhafte Anmutungen miteinander, und zwar vor allem in Bezug auf die Zeiterfahrung.
Obwohl vereinfacht wird, scheint man in Kriegszeiten psychisch schwerer realisieren zu können, in welcher Zeit man sich befindet. (Eine scheinbar gegenläufige Aussage zur Aussage, dass der Krieg so deutlich präsent ist und präsentiert wird.)
Aber in welcher Zeit befindet man sich, wenn der regierende Kanzler feststellend und durchwegs unwidersprochen von „Zeitenwende“ spricht? Diese Bezeichnung eines nicht genauer fassbaren Übergangs wählt? Und was folgt daraus?
Um es zeichentheoretisch oder filmtechnisch oder zeitpsychologisch auszudrücken: Eine Folge ist die Erfahrung als würde Zeit aus einem Wechsel von Vorblenden und ineinander geschachtelten Rückblenden bestehen. Vorblenden: ungeduldiges ängstliches Prognostizieren. Was wird anders? Was kommt auf einen zu?
Rückblenden: was wurde alles vergessen? Was nicht beachtet, falsch gemacht? Was sollte nachgeholt, neu arrangiert werden?
Durch die Verknotung von Vor- und Rückblenden bekommt die Frage, in welcher Zeit man lebt, eine irreale Qualität. Irreal trotz und wegen der von Massenmedien vermittelten Kriegsbilder. Aus den Trümmern steigt Rauch auf, da ist was Explosives eingeschlagen, da sind verpixelte Leichen und Holzkreuze auf Gräbern, die ‚harte’ Realität, aber noch dort.
In welchem realen Alptraum ist man da aufgewacht?
Gleichzeitig friedliches Betrachten der Bildschirme und Blättern der Zeitungen und Hören der Meldungen, hier.
Hier, am Beispiel einer zunehmend irritierenden und gar nicht schleichenden Realität von Preissteigerungen ablesebar. Man bekommt mit, wie die Preise für viele Grundprodukte steigen und weitere Steigerungen im Schlepptau. Aha: Inflation! Rückblende, so schlimm wie seit 40 Jahren nicht mehr, wird gemeldet. Aber wer hat sie als schlimm in Erinnerung? Schlimm war die Inflation Anfang der 20er Jahre im 20. Jahrhundert.
Vorblende: wie geht es weiter? Wann hat es ein Ende? Kommt es zu einer Preisexplosion?

Der Nebeleffekt, der sich immer noch über die sich weiterdrehende Eskalationsspirale legt, bleibt wirksam und wird auch Teil des öffentlichen Diskurses über Krieg und Frieden, der auf Klärung und Positionierung drängt, die Vorzüge offener Gesellschaften demonstriert und sich als pro und contra präsentiert.
Wo viel Nebel, sind die Gegenstände aus der Entfernung, weniger klar zu erkennen als aus der Nähe. Aber eben nicht alle Gegenstände des Erkennens. (Militärische und zivile Aufklärungssatelliten ausgeklammert). Aus mal größerer, mal geringerer Entfernung, mit mal größerer, mal geringerer Klarheit lassen sich vielleicht psychisch wirksame Konfigurationen erschließen.

Von außen betrachtet wäre für die Kriegsparteien zunächst ein Waffenstillstand eine sinnvolle Option. Allerdings eine, die nur sie selber – unter Zuhilfenahme von Bündnispartnern und „Neutralen“ Dritten – verabreden können. Im Kriegsgeschehen entscheidet in der Regel die ‚strategische Lage’. Jene Gleichung mit den vielen Bekannten und noch mehr Unbekannten.

Nichtsdestotrotz aber bleibt die Frage immens wichtig, wie dieser Krieg beendet werden kann, wie eine friedlichere Nachkriegsordnung aussehen kann, da können viele mithelfen.

Auch wenn manche Konturen schärfer heraustreten: so zum Beispiel, dass die versuchte Abwehr einer Nato-Osterweiterung im Süden Europas zu einer Nato-Osterweiterung im Norden führen kann; das Drohungen in die Leere laufen können, dass sich Stärken in Schwächen verkehren können und umgekehrt… Dass Mechanismen ‚im Großen’ so wirken wie auch in alltäglichen psychischen Einheiten.

Noch hat sich der Nebel nur wenig gelichtet. Noch dreht sich die Spirale der Eskalation weiter, noch wird auch mit anderen als schweren Waffen Krieg geführt, aber von Zeit zu Zeit sinkt er ab von der Hauptschlagzeile auf den zweiten oder dritten Platz.
Hier.

 

Bild von Linde Salber