Es sind noch nicht alle Bücher ausgepackt, aber die in diesen Wochen entstehende Wilhelm Salber Bibliothek zeigt schon jetzt eine Reihe von interessanten Abteilungen und Gruppierungen. Wir nehmen dies zum Anlass eine neue Reihe auf dieser Website zu eröffnen: "Berichte aus der Privatbibliothek Wilhelm Salbers". In lockeren Abständen werden sich Kollegen ein oder mehrere Bücher vornehmen und sie kurz vorstellen. So entsteht mit der Zeit ein Überblick über diese einzigartige und wertvolle Sammlung, die das kulturelle Universum ihres ehemaligen Besitzers repräsentiert.

Unruhige Ränder
Ein Beitrag von Dr. Wolfram Domke

Der Besuch in Wilhelm Salbers Bibliothek begann streng genommen bereits vor einigen Wochen in Guatemala und Mexiko auf einer Rundreise durch das alte Reich der Mayas. Immer wieder gab es da imposante Bauwerke zu besichtigen, die in den vergangen 150 Jahren aus dem alles überwuchernden Dschungel freigelegt worden waren. Bei der staunenden Besichtigung von Architekturen einer längst untergegangenen Seelenkultur kam plötzlich das alte Buch „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ von Heinrich Wölfflin nach langer Versenkung bei mir wieder in den Sinn. Und zwar mit der sich vor Ort wiederholt stellenden Frage: „Warum sind Ruinen malerisch?“ Seltsamerweise hatte ich in Erinnerung behalten, dass Wölfflin zu diesem Phänomen etwas gesagt hatte. Der spätere Blick in das Buch bestätigte dann meine Erinnerung:

Die Erstausgabe von “Kunstgeschichtliche Grundbegriffe” aus Wilhelm Salbers Privatbibliothek

Aus denselben Gründen gibt es eine malerische Schönheit der Ruine. Die Starrheit der tektonischen Form ist gebrochen und indem die Mauer bröckelt, indem Löcher und Risse entstehen und Gewächse sich ansetzen, entwickelt sich ein Leben, das wie ein Schauer und Schimmer über die Fläche hingeht. Und wenn nun die Ränder unruhig werden und die geometrischen Linien und Ordnungen verschwinden, kann der Bau mit den frei bewegten Formen der Natur, mit Bäumen und Hügeln, eine Bindung zu einem malerischen Ganzen eingehen, wie sie der nicht malerischen Architektur versagt ist.

Die ‚unruhigen Ränder‘, von denen Wölfflin hier spricht, sind also ein Brechungsphänomen zwischen der architektonischen Kulturgestalt und der Verwandlungsmacht der Dschungelnatur. Das Malerische resultiert dabei aus der Entwicklung eines Wirkungsganzen, dessen Binnenordnungen bewegtes Leben durchschimmern lassen. Und das Malerische resultiert eben nicht daraus, dass dieser Übergang an einer bestimmten Stelle künstlich angehalten und für künftige Zeiten ‚schön‘ konserviert wird. Letzteres wäre ein Begriff des Malerischen, der schon nahe am Kitsch läge. Wölfflins Begriff des Malerischen hat demgegenüber eher lebendig-unruhige Metamorphosen im Blick.

Gerade das macht sein Buch aus morphologischer Sicht so interessant. Denn obwohl der Titel ein eher trockenes Lehrbuch der Kunstgeschichte erwarten lässt, überrascht uns sein Inhalt mit einer erlebensnahen Beschreibung dessen, was die Stilepochen von Renaissance und Barock strukturell ausmacht. Eine Wirkungsanalyse vom Feinsten, die mit ihren fünf, nicht wertenden Polaritäten (linear-malerisch/ Fläche-Tiefe/ geschlossen-offen/ Vielheit-Einheit/ Klarheit-Bewegtheit) regelrecht Schule machte – nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern eben auch in der Kunstpsychologie. Das Buch stand auf der Prüfungsliste des Salber-Lehrstuhles, wenn man zum Hauptdiplom dieses Fach wählte. Dass man es aber überhaupt wählen konnte, sagt viel über die Psychologische Morphologie, die ja in der Kunst eine Art Königsweg zum Verständnis des Seelischen sieht. In den Vorlesungsverzeichnissen unserer Tage kann man das Fach Kunstpsychologie wahrscheinlich kaum noch finden. Die herrschende Lehre mag keine Löcher und Risse, die ihre Gegenstandmauern womöglich bröckeln und ihre Ränder unruhig werden lassen.

Zurück zu den Mayas. Von Frederick Catherwood, einem der Begründer der modernen Maya-Forschung, gibt es berühmte, ‚malerische‘ Zeichnungen. Sie geben die Bauwerke so wieder, wie er und sein Forschungskollege John Lloyd Stephens sie Mitte des 19. Jahrhunderts auf ihren Expeditionen vorfanden: halb die verfallende tektonische Form zeigend, halb den überwuchernden Dschungel. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Buch mit diesen Zeichnungen in den noch nicht ausgepackten Kisten der Wilhelm-Salber-Bibliothek auf Wiederentdeckung wartet.

Drei Werke von Wölfflin in der Bibliothek