Die Wilhelm Salber Gesellschaft stellt an dieser Stelle drei Materialen zur morphologischen Filmpsychologie zur Verfügung. Über sie erschließt sich ein Einblick in die Entwicklung von Wilhelm Salbers Filmpsychologie und zugleich eine Annäherung an eines der berühmtesten Werke der Filmgeschichte.

Sehen: Un Chien Andalou (F 1929) von Luis Bunuel und Salvador Dali

Der Filmemacher Luis Bunuel (1900 bis 1983) und der Maler Salvador Dali (1904 bis 1989) hatten sich 1920 während ihrer ihrer Studienzeit kennengelernt. 1928 kamen sie in der Heimatstadt Dalis Figueres erneut zusammen und entwickelten die Idee, gemeinsam einen Film zu produzieren. Mit der Technik des “automatischen Schreibens” machten sie sich an die Herstellung eines Drehbuchs. Der Titel wurde absichtlich ohne Bezug zum Film gewählt. Die Dreharbeiten dauerten circa vierzehn Tage. Bunuel schnitt den Film in Paris und zeigte ihn u.a. Louis Aragon und Man Ray. Die beiden Künstler waren begeistert. Die öffentliche Uraufführung fand 1929 statt. Der Film, der hier gestreamt werden kann, dauert circa 16 Minuten. Um den Film im Vollbildmodus zu sehen, klicken Sie auf das mittlere Symbol unten rechts.

Lesen: Auszug aus einem Notizbuch von Wilhelm Salber

Seit Mitte der 1950er Jahre verfertigte Wilhelm Salber Notizen zu Filmen, die er gesehen hatte. Die erhaltenen Notizbücher werden heute ausgewertet und zeigen, wie entscheidend die Gestaltungsformen des Films Salber dabei unterstützten, eine morphologische Psychologie zu entwickeln. Die hier abgedruckte Notiz schrieb Salber am 16. Mai 1957 nach einer zweiten Sichtung von “Un Chien Andalou”. Sie macht deutlich, dass er in dem Werk von Bunuel eine Art Prüfstein und Vorbild für die Filmpsychologie sah. Eigentlich ist das, was der Film im Erleben im Erleben der Zuschauer in Gang setzt, unsagbar. Und doch sollte eine Psychologie des Films wenigstens einige, Züge davon festhalten und einordnen können:

Was man beim einmaligen Sehen nur ahnen kann, beim zweiten Sehen wird es eindeutig: ein ausgezeichnet filmisch „gemalter“ und ein packender und erregender Film. Ohne in der „fotographierbar“-objektiven Welt mögliche seelische Geschehnisse zu zeigen, wird die psychologisch erfahrbare Welt durch gefilmte Bilder in Wesenszügen herausgearbeitet.

Gefilmte Bedeutsamkeiten, Stimmungen im Rhythmus des seelischen Ablaufs in nuce – und zwar in der „Grenzsituation“, in der man seinem eigenen Erleben zugleich „fremd“ (als etwas Unheimlichem, nicht letztlich Begreifbaren) und „mitgerissen“ (als Kunst, deren Wesenszüge seelischer Natur sind) gegenübersteht. Eine Verbildlichung von Erleben überhaupt, ein Symbol seelischer Struktur, aus dem man sich auch in einem zweiten Sinne sowohl herausgestellt, als einbezogen fühlt: herausgestellt, weil das Seelische hier sich nicht in dem „Klischee“ der objektiven – ohne weiteres fotographierbaren – Wirklichkeit zeigt (naturalistisch); einbezogen, weil man gefühlsmäßig die Umformungen mitmacht.

Ein „morphologischer“ Film, der dauernd „bildet“ und „umbildet“. Und dabei zeigt sich, dass die surrealistische Montage (wie auch bei einigen Bildern von Dali) keine Zufalls-Beziehungen aufgreift, sondern „innere“ Abstimmungen. Alles war aufeinander bezogen. Der Film gab „Gebärden“ des Seelischen „an sich“ wieder.

Ein zugleich verblüffender Rätsel-Film und ein zugleich „wissender“ Film.

Im einzelnen: das Schleifen des Rasiermessers zu Anfang: Fensterkreuz – Riemen, auf dem das Messer geschliffen wird. Eine ähnlich ausgeleuchtete Situation wie in „Ekstase“, wo Hedi Lamarr abends eine Zigarette raucht. Schon das wirkte zugleich realistisch und gefilmt. Dann sah man den Mann, er rauchte. Balkon – Mond – Schnitt durchs Auge der Frau. Zwischentitel: 8 Jahr später. [hier drängt sich natürlich die psychoanalytische Situation der Defloration auf]

Dann nach dem Zwischentitel: der seltsam gekleidete Mann, der mit Schürzchen und Kästchen durch leere Straßen radelt (Doppelbelichtungen, Abblenden und Aufblenden). Die (ausgezeichnet ausgesuchte, mollige, pummlige, sich wiegende) Frau im Zimmer. [s. Balacz]. Die Szene voller sexueller Erregung in der der Mann die Brust der Frau befühlt; zuerst wehrt sie sich, dann lässt sie es geschehen: dann Überblendung verklebter – unbekleideter Oberkörper der Frau, der befühlt wird im rhythmischen Wechsel mit dem „bekleideten“ – „unbekleideten“ Gesicht des Mannes: = einmal gierig-geil, dann blind, ein Streifen Blut-Speichel rinnt aus seinem Mund. Mehrmaliger Übergang – so was Hervorragendes hab ich noch nicht gesehen. – Der Mann, der auf die Frau zugeht, die Klavier mit dem Jesuiten u. den Toten Eseln auf sie zuzieht – Die Hand, aus der Ameisen rauskommen, die erstarrt. [Vorher war noch der Übergang von den Ameisen in Hand auf die Achselhaare eines Mannes im Badekostüm – auf einen Seeigel – auf einen Kreis (Maske), in dem eine Frau eine abgehauene Hand mit einem Stock bewegte – die Leute, die den Kreis um sie bildeten, ließen eine Abstimmung auf den Seeigel anklingen].

Dann der Mann mit einem Schürzchen (Malaparte – Amor?), dem ein anderer Mann die Sachen abnimmt und ihn an die Wand stellt. Der aus Pistolen den anderen erschießt, in den sich Bücher, Schulbücher verwandeln, wie ein andrer zusammenbrach (Weichzeichner) – alles ohne eine Lücke in filmischer Hinsicht gestaltet – großartig…

Dann ein Falter mit einer Totenkopfzeichnung – der Kopf des Mannes, der die Frau anblickt und de Mann ohne Hemd, der dann die Achselhaare der Frau wie ein Bart trägt. Sie streckt ihm die Zunge raus, läuft zu einem, der am Strand auf sie wartet (Uhr). ….

Die Ambivalenz des Seelischen von Erregung und Tod kam in alldem ausgezeichnet heraus. Aber es dürfte den Film vergewaltigen, wenn man die Vorgänge auf einen eindeutigen, rationalen Nenner bringen will, der sie lückenlos erklärt. Für viele Züge, auf die die Romantik hinwies, fehlen heute überhaupt noch Logifizierungen -, wenn sie überhaupt möglich sind.

Der Film ist ohne Zweifel für jede Filmpsychologie ein Ansatz- und auch ein Endpunkt: was Film psychologisch gesehen ist und wie er wirkt. … Deren Begründung (?) muss von den Hinweisen des Bunuel-Films auf Gefüge, Bild-Bedeutung, Bild-Spannung und -Logik ausgehen und sie muss von ihrer Begriffswelt her auch das Ganze wieder erklären können.

Hören: Auszug aus einem Vortrag von Wilhelm Salber zur Filmpsychologie

Circa 45 Jahre nach der oben abgedruckten Notiz hielt Wilhelm Salber bei der von Armin Schulte geleiteten “Kölner Akademie für Markt- und Medienpsychologie” (KAMM) in Köln einen Vortrag zur Psychologie des Films. In diesem Rahmen zeigte er auch “Un Chien Andalou”. In circa acht Minuten legte er anschließend dar, was der Film von Louis Bunuel der Filmpsychologie sagen kann.

Salbers frei gesprochener Vortrag war typisch für ihn. Ein professorales Auftreten lag ihm nicht. In vier knapp gehaltenen Gedanken wendete er Kernpunkte seiner Psychologie auf das von den Zuhörern soeben gesehene Werk an. Die außerordentliche Dichte seiner Argumentation wirkt zugleich beeindruckend und einschüchternd. Man muss sich mit diesem Vortrag etwas länger beschäftigen, um sich seinen ganzen Gehalt anzueignen. Hier eine knappe Skizze der von Salber angeführten, filmpsychologischen Begriffe:

Zunächst legt Salber Wert darauf, dass der Film in eine Entwicklung im “Originaltempo des Erlebens” einbezieht. Es ereignet sich ein dramatischer Prozess im Hier und Jetzt. Zweitens macht Salber deutlich, dass “Un Chien Andalou” – wie andere Filme auch – in einen Metamorphose ähnlichen Prozess einbezieht. Wir verspüren auf beunruhigende Weise, dass wir diese Bilderfolgen kaum zu fassen verstehen. Mit einem dritten Gedanken hebt Salber heraus, dass Filmerleben ein Werk ist. Es bildet eine Einheit des Erlebens mit der Bild- und Tonspur. Es wird von ihr auf der einen Seite gefesselt. Zugleich aber werden zahlreiche psychische Tätigkeiten – Erwartungen, Ergänzungen, Befürchtungen, Erinnerungen und Assoziationen – entfesselt. Auch sei für den Film charakteristisch, dass er den Kompromisscharakter von Wirklichkeit, auf den wir uns im Alltag einigen, entscheidend verändert. Was wir im Alltag niemals tun oder akzeptieren würden, im Film wird es in Handlungen ausführt. Der vierte Gedanke, den Salber an dem Film von Bunuel veranschaulicht kreist ein Paradox ein: Bei ihm gehe es um die Ahnung, dass die “festen” Gewissheiten, auf die wir bauen, vielleicht nur zufällige Konstruktionen sind. Die menschliche Wirklichkeit ließe sich auch ganz anders anordnen. Davon vermittelt uns “Ein andalusischer Hund” eine Ahnung.

Der Auszug aus dem zweistündigen Vortrag kann hier angehört werden. Der vollständige Vortrag befindet sich in dem von Armin Schulte bereitgestellten und für Mitglieder der WSG zugänglichen Archiv unter den Titel Salber – Filmpsychologie 1 und Salber – Filmpsychologie 2. Bitte auf das Pfeilsymbol links klicken, um den Vortrag zu starten.