Das WSG-Mitglied Stephan Grünewald, Mitbegründer des rheingold Instituts, hat den aktuellen Umgang der Deutschen mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie beobachtet. In einem Essay, der am 1. März 2021 in der Tageszeitung DIE WELT erschienen ist, fasst er seine Untersuchungen zusammen.
Stephan Grünewald
Das Land der Dichtmacher
Viele Menschen erleben den Alltag in Deutschland derzeit als schier endlose Wiederholungsschleife. Täglich grüßt das Coronavirus. Der Tunnelblick überstrahlt jeden Lichtblick. Das Leben zieht sich wie ein Kaugummi. Und Experten, Bürger und manche Politiker fragen sich mit erstauntem Entsetzen, wieso so viele sinnvolle und vernünftige Maßnahmen hartnäckig nicht umgesetzt werden.
Als Psychologe sehe ich den deutschen Umgang mit der Pandemie mit seiner Tendenz zum Nichthandeln und zur zaudernden Unentschiedenheit als Fehlleistung. Fehlleistungen sind Ausdruck unbewusster Widerstände. Sie lassen sich nicht durch rationale Argumente behandeln, sondern von einem Verständnis ihrer Psycho-Logik. Bei der Analyse von Hunderten von Tiefeninterviews, die wir in den letzten Wochen mit den Menschen in Deutschland durchgeführt haben, begegne ich zunehmend inneren Widersprüchen, kruden Denkfallen und latenten Erlösungshoffnungen. Diese seelischen Faktoren sind mit verantwortlich dafür, dass Deutschland seine Vorreiterrolle in der Pandemiebekämpfung seit dem Sommer verspielt hat.
So besteht ein zentrales seelisches Dilemma im Umgang mit der Pandemie darin, dass es zwei gänzlich divergente Haltungen gibt, mit denen man dem Virus entgegentreten kann. Passiv in Form eines Lockdowns und der damit erwirkten Kontaktreduzierung. Aktiv in Form des Einsatzes effizienter und zielgenauer Maßnahmen zur Vorbeugung: Schnelltests, FFP2-Masken, Tracking-/Ortungssysteme, Hygienekonzepte, schnelle Reaktion bei Ausbrüchen, konsequentes Monitoring der Maßnahmen und Sanktionierung, aber auch die Stärkung der Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Beide Haltungen haben ihre Berechtigung. Im Idealfall greifen sie ineinander und verstärken sich.
In Deutschland scheinen sich beide Haltungen aber zunehmend zu behindern und zu entkräften. Die passive Haltung wird durch einen Aktivitätsanspruch unterhöhlt, die aktive Haltung durch einen Passivitätshabitus gebremst.
Der Status quo ist geprägt von einer löchrigen Passivität und einer zielgehemmten Aktivität.
Der zweite Lockdown und damit die Rückkehr in den Passivitätsmodus erfolgte so zu spät und zu milde. Die Bürger erlebten zwar eine partielle Einschränkung, hatten jedoch anders als im letzten Frühjahr kein rasches Erfolgserlebnis. Die so notwendigen Verlängerungsschleifen des Lockdowns erzeugten eine zunehmende Zermürbtheit und eine Corona- Korrosion. Vordergründig halten sich die Menschen zwar an die Regeln, hintergründig entsteht jedoch ein Schattenalltag, in der jeder seine Grauzonen etabliert und seine Schlupflöcher nutzt. Diese löchrige Passivität konterkariert so das Ziel der Kontaktreduzierung.
Die Zielhemmung der Aktivität wird vor allem in der jetzigen Zeit spürbar, in der sich die Inzidenz stabilisiert und die Sehnsucht nach einem gestaltenden Übergang in ein kontrolliertes Leben mit dem Virus wächst. Dieser Übergang setzt aber wiederum voraus, dass die Politik und die Bürger alle verfügbaren Maßnahmen schnell und konsequent umsetzen. Das geschieht allerdings allenfalls partiell und zu zögerlich. Die Analyse unserer Tiefeninterviews erkennt fünf Gründe dafür:
1. DIE GLORIFIZIERUNG DES AUSSITZENS, ABWARTENS UND NICHTSTUNS
Viele Bürger haben das Gefühl, dass man sich angesichts einer unsichtbaren Bedrohung durch das Virus nur wegducken kann und jedes aktive Eingreifen am besten einstellen sollte. Idealiter würde man sich und das ganze Land in einen kollektiven Winterschlaf versetzen, der erst beendet wird, wenn das Virus durch externe rettende Mächte aus der Welt geschafft ist. Der Spot der Bundesregierung hat mit seinem Lob der Faulheit („Wir waren wie die Faultiere und haben nichts gemacht“) die untätig abwartende Haltung geadelt. Teile der Bevölkerung sind mehr und mehr in eine bürokratische Duldungsstarre verfallen. Ihre gesellschaftliche Aktivität jenseits der privaten Grauzonen erschöpft sich oft darin, selbst die Corona-unbedenklichen Aktivitäten ihrer Mitmenschen anzuprangern.
2. INNOVATIONSGEIST UND ERFINDUNGS- REICHTUM ALS SÜNDENFALL UND SCHULD AN ZWEITER WELLE
Der erste Lockdown war erfolgreicher, weil die Menschen angstgetrieben durch ein noch unermessliches Katastrophenszenario ihre Kontakte reduziert haben. Die Passivität war damals weniger löchrig, die Aktivität noch nicht so zielgehemmt, da die Öffnung durch viele kluge Maßnahmen und die Entwicklung wirksamer Hygienekonzepte kreativ vorangetrieben wurde. Mit dem Ansteigen der Zahlen im Herbst wurde aber dieser deutsche Erfindungsreichtum pauschal diskreditiert. Zitat aus den Tiefeninterviews: „Die dritte Welle ist doch die Quittung dafür, dass wir wieder gelockert haben und Bars, Vereine oder Restaurants geöffnet haben.“ Wenn aber kluge Maßnahmen und findige Lösungen als Sündenfall erscheinen, dann verliert Deutschland seine elanvolle Schöpferkraft und seinen Nimbus als Land der Ideen und Patente. Aus dem Land der Dichter und Denker droht das Land der Dichtmacher und Querdenker zu werden.
3. VOLLKASKOMENTALITÄT VERSPRICHT UNANGREIFBARKEIT
Wer etwas probiert, macht sich angreifbar. Umgekehrt bietet der pauschale Lockdown ähnlich wie ein Breitbandantibiotikum eine Art Versicherungsschutz. Diese Haltung kann es Politikern im Superwahljahr schwer machen, das Risiko differenzierter und zielgenauer Maßnahmen zu wagen. Denn auch eine kluge Maßnahme kann das Tor für Schuldvorwürfe öffnen, wenn die Werte steigen sollten. Auch bei vielen Bürgern toppt derzeit der Vollkasko-Wunsch das Prinzip Eigenverantwortung. So beschreiben viele ihre Scheu, selber Schnelltests anzuwenden, als würden sie damit eigenmächtig in einen staatlichen Hoheitsbereich eingreifen.
4. ARRANGEMENT MIT DER LEBENSFORM „LOCKDOWN“
Bereits während des ersten Lockdowns fiel mir in unseren Studien auf, dass ein knappes Drittel der Befragten nicht unter der Stilllegung litt.
Sie erlebten sie vielmehr als eine entschleunigte Zeit, als eine Art Sabbatical, in dem man endlich lieb gewonnenen Dingen nachgehen kann. Im zweiten Lockdown vertieft sich die Spaltung zwischen den Menschen, die den Lockdown als existenzielle Bedrohung oder Einschränkung ihres Lebenskreises sehen, und denjenigen, die sich in einem kleinen Corona-Biedermeier-Lebenskreis komfortabel eingerichtet haben. Letztere haben mitunter gar kein Interesse an einer aktiven Öffnung, denn die Lebensform Lockdown entbindet sie von vielen Zumutungen und Herausforderungen des modernen Lebens. Weniger Kontakte, weniger shoppen, weniger Verpflichtungen, weniger reisen bedeuten für sie auch weniger Befremden, weniger Entwicklungsnotwendigkeit und mehr legitimierte Selbstbezüglichkeit.
5. FUNDAMENTALISTISCHE ERLÖSUNGS- ANSPRÜCHE À LA COVID ZERO
„Ich starte das Leben erst wieder, wenn das Virus eliminiert ist!“, verkündet ein Proband im Tiefeninterview. Als Psychologe finde ich es beunruhigend, wenn in der Krise Narrative von Endsiegen aufkommen. Sie faszinieren zwar gerade jetzt als Wunschträume. In ihrem Absolutheitsanspruch führen sie jedoch in einen besessenen Krieg gegen das Virus, der meines Erachtens nie vollkommen gewonnen werden kann, oder sie zementieren eine abwartend-fatalistische Haltung, die die aktive und kontrollierte Öffnung des Lebenskreises an eine kaum einlösbare Bedingung knüpft. Das unentschiedene Schunkeln zwischen löchriger Passivität und zielgehemmter Aktivität schafft zwar die Illusion, schuldlos durch die Pandemie zu kommen, führt jedoch in einen Teufelskreis aus unproduktiven Endlosdiskussionen, ständigen Schuldverschiebungen und rigiden Lagerbildungen. Die seelischen und gesellschaftlichen Kollateralschäden wachsen, gleichzeitig verliert die Bevölkerung zunehmend die Orientierung und das Vertrauen in die Politik.
Dürfen wir das – uns selbst testen? Die Gewöhnung an das scheinbar gebotene Nichtstun und ein entschleunigtes Corona-Biedermeier zerstört unsere Kreativität im Kampf gegen die Pandemie.
Ein Ausweg scheint mir in einer neuen Entschiedenheit im Hinblick auf eine wirklich aktive Haltung zu liegen. Für eine entschieden passive Haltung mit einem harten Lockdown ist es zu spät. Die Menschen sind durch die monatelange Einschränkung zermürbt, und die berstenden Aufbruchsenergien des nahenden Frühlings müssen kanalisiert werden. Entschieden auf effiziente und zielgenaue Maßnahmen zu setzen, und damit der Einsatz von bisher kaum genutzten technologischen Tools vom Schnelltest bis zum Trackingsystem, setzt jedoch vier Aspekte voraus:
Die Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger auch durch Politiker, die sich nicht hinter einem Vollkasko-Anspruch verschanzen, sondern an die schöpferische und kreative Seite Deutschlands appellieren. Die Schaffung einer klaren und für die Menschen greifbaren Zielperspektive mit konsistenten und nachvollziehbaren Stufenplänen. Das konsequente Monitoring aller Maßnahmen. Und wenn es auf diesem aktiven Weg Rückschläge geben sollte, sind Aufklärung, Fehlertoleranz und Mutmachen hilfreicher als Moralisieren und Schwarzmalen.