Am 1. Februar 1993 hielt Wilhelm Salber an der Universität zu Köln seine Abschiedsvorlesung. Sie trug den Titel “Medien-Wirkungseinheit”. Die damals anwesenden Hörer bereiteten dem langjährigen Lehrstuhlinhaber einen bewegenden Abschied. Wir stellen das Kernstück dieser Abschiedsvorlesung hiermit den Besuchern dieser Website zur Verfügung. Sie kann sowohl über die Videoaufnahme von Armin Schulte gehört, als auch als transkribierter Text gelesen werden.
Die Lektüre des transkribierten Textes ist insofern interessant, als er den Vorlesungsstil Wilhelm Salbers sichtbar macht. Salber hat seine Vorträge stets sehr sorgfältig vorbereitet, dann aber frei gehalten. Diese Art vorzutragen hielt ihn dazu an, in Gegenwart seiner Zuhörer den Stoff noch einmal aktuell zu entfalten und zu entwickeln. Dem Text ist diese “Formulierung der Gedanken beim Reden” (frei nach von Kleist) anzusehen. Sie unterscheidet sich im Stil sowohl von wissenschaftlichen Vorträgen, die abgelesen werden, als auch von den gedruckten Texten Wilhelm Salbers.
Nachdem Wilhelm Salber – wie es seine Gewohnheit war – die vorherige Vorlesung in circa zehn Minuten zusammengefasst hatte, fuhr er mit dem Hauptteil folgendermaßen fort:
Die Vorlesung heißt: Medium Wirkungseinheit. Das habe ich immer wieder in den Sinn zu rufen gesucht. Unsere Auffassung ist von vornherein, in jeder Entwicklung von Wirklichkeit ist immer so etwas drin wie Kunst. Was ich jetzt erzähle, ist auch eine Art morphologische Kulturpsychologie. Ich will versuchen, Ihnen das in einer halben Stunde einmal vorzuführen.
- Wirklichkeit
Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass Sie wissen, was Drehfiguren sind. Dass wir immer den Versuch machen, so mehrere Sachen in einen Kreis oder eine Spirale zu bringen. Das können wir auch machen mit den Drehpunkten Wirklichkeit, Bilder, Kunst und Kultur. Und diese Figur steht am Schluss der Vorlesung, weil wir uns daran noch einmal klarmachen können, wenn wir über Werbung sprechen, wenn wir über die Universität sprechen: unsere Alltagskultur hat immer etwas was mit gelebten Bildern zu tun. Es ist immer etwas drin von Kunst und es ist immer ein Kultivierungsprozess. Was sich abspielt etwa im Betrieb oder hier an der Universität, das hat etwas mit den Bildern und der Literatur zu tun, die im Augenblick gang und gäbe sind. So sind Reisen in der Literatur sehr beliebt, Reisen in die Geschichte, Urtümliches oder Mittelalter ist im Augenblick sehr beliebt, oder eben Reisen zu ganz anderen Kulturen. Wir interessieren uns sehr für Indianer, für Ostasien, für unterdrückte Völker. Und diese Literatur, die leben wir jetzt auch im Betrieb aus. Das kann also ein Betrieb sein, der sich nur mit Computern beschäftigt, aber was sie in dieser Literatur aufgreifen, das wird in dem Betrieb mit abgehandelt. Es gibt nichts, wo wir sagen können, das ist jetzt reine Betriebspsychologie, Organisationspsychologie. Das ist der Irrtum, wir könnten in solche Fächer unterteilen. Wir sind von vornherein auch im Betrieb mit solchen Bildern, mit solchen Literaturen, mit dem eben, was im Augenblick in der Literatur gang und gäbe ist, befasst.
Ich habe ja immer gesagt, Ceterum censeo, wir wollen nicht in Kästchen denken, sondern wir wollen berücksichtigen, dass alle diese Züge, die wir feststellen bei der Entwicklung von Wirkungseinheiten eine Rolle spielen. Im Alltag, in der Werbung, bis hin zur Therapie. Da ist also nichts ausgenommen, das gilt immer in gleicher Weise. Und das, was ich jetzt sage über die Drehpunkte Wirklichkeit, gelebte Bilder, Kunst und Kultur, das gilt natürlich auch so. Egal, was wir untersuchen. Auch wenn Sie meinen, Sie haben jetzt eine ganz individuelle Persönlichkeit auf der Couch, Sie haben zugleich immer die Literatur unserer Zeit und die ganze Kultur dabei. Und wenn Sie das nicht sehen und berücksichtigen, dann verstehen Sie auch nicht, wie die Sache läuft, die Sie gerade als “Wirkungseinheit” formalisiert, “Persönlichkeit” genannt, vor sich haben.
Psychologisch verstanden ist Wirklichkeit nicht eine einfache Sache und nicht eine Sache, die wir an sich ‚jenseits der Subjekte‘ finden, sondern Wirklichkeit hat etwas damit zu tun, dass das Seelische aufgreifen kann, was sich in einer Vielfalt von Wirklichkeiten präsentiert. Und das heißt ja Medium. Seelisches ist immer in einem Medium. Es existiert auch nicht für sich und greift dann mal ab und zu aus dem Innenraum heraus in die Wirklichkeit hinein. Sondern was in dieser Wirklichkeit da ist und wirksam ist, die Wälder, die Teiche, aber auch die Maschinen, die Gärten, die Parkanlagen, die Einrichtungen, unsere Kleidung, alles das wirkt mit am Design des Seelischen.
Das Seelische wird dadurch mitbestimmt, dass es diese Wirklichkeiten nachbildet. Infolgedessen müssen wir in einer Kultur-Psychologie davon ausgehen, dass es keine Kreativität aus dem Nichts gibt. Wir lehnen uns immer an irgendwelche Formen an, die im Design der Wirklichkeit vorgeschrieben und vorgemacht sind und das suchen wir dann nachzubilden.
Aber, und jetzt kommt wieder das Aber, das wir ja schon so oft angetroffen haben, wenn wir uns mit den Gestaltbrechungen des Seelischen beschäftigen. Wir halten es nicht aus, einfach etwas nachzubilden, sondern wir verrücken es auch. Wir verrücken das, was wir vorfinden, in andere Figuren. Wenn wir Maschinen haben, dann machen wir daraus Kunstwerke, wir können sie dann im Museum vorfinden. Wenn wir Wälder haben, holzen wir sie zunächst einmal ab, und dann ersetzen wir sie durch Plastik und wenn wir dann in dem Plastik eine Stunde sitzen, dann denken wir sehnsuchtsvoll an die Wälder und sagen, jetzt wollen wir wieder Wälder haben. Diese Wendung ist für das Seelische charakteristisch. Und das müssen Sie mit sehen. Es bleibt nichts stehen. Wir versuchen etwas aufzugreifen, wir werden durch das geprägt, was wir als Design vorfinden, aber wir müssen auch immer etwas daran verrücken.
Wenn wir das auf die Kultur beziehen, und darüber wollten wir ja auch reden: alles was die bürgerliche Kultur so um 1900 als hässlich, als Rest, als peinlich herausstellte, das wurde im Dadaismus und im Futurismus zu einem neuen Ansatzpunkt, die Wirklichkeit zu verstehen. Das gilt in gewisser Weise auch von der Psychoanalyse. Was bis dahin unter dem Tisch war, was unbewusst gehalten wurde, das ging auf einmal in den Sprachgebrauch über, die Wissenschaft fing an, darüber zu reden und dann 1968 war das schon ein Programm: “Befreit die Partialtriebe!” Das war die neue Richtung, die Universität umzukrempeln. Diese Wandlungen sind es, die uns wichtig sind, wenn wir uns mit der Wirklichkeit beschäftigen. Also einmal Design, dann aber immer in der Wirklichkeit verrücken, in der Wirklichkeit immer Kultivierung, immer Kunst, immer Bilder.
2. Gelebte Bilder
Damit komme ich auf den zweiten Drehpunkt. Die Anhaltspunkte, auf die wir uns beziehen in der Psychologie, sind nie Einzelheiten. Wenn wir uns mit dem Verhältnis von Literatur und Handlung beschäftigen, dann stellen wir fest, Worte wirken, so kann man sagen, aber sie wirken nur, weil sie immer in Werken gebunden sind und weil immer von diesen Worten her Werke aufgerufen werden. Jetzt wieder auf das Verrücken hin gesehen: die Werke, die halten diese Worte nicht fest, sondern die Worte lassen sich aus den Werken lösen. Wir stellen fest, wenn wir Literatur betrachten, dass jede neue Literatur alte Literatur umschreibt. Wenn wir mal betrachten, dass jedes neue Bild eine Herausforderung der alten Bilder ist. Das haben die russischen Formalisten als Differenzqualitäten bezeichnet und wir bezeichnen es als Gestaltbrechung. Wir versuchen spürbar zu machen, was uns bewegt und wir können das nur, indem wir etwas Altes verrücken, indem wir versuchen in einer Differenzqualität neue Qualitäten in diese Wirklichkeit zu setzen.
Am einfachsten kann man sich das klarmachen an den schönen kölnischen Sketchen, wo dargestellt wird zunächst einmal, was sie sagen, und wo dann in der nächsten Szene dargestellt wird, was sie denken. Zwischen dem, was als Ideologie existiert, und dem Verhalten sind Differenzqualitäten zu beobachten und das kann man natürlich auch beobachten, wenn wir uns mit der Wissenschaft beschäftigen. Wenn wir in der Morphologie versuchen, vor allen auf die Alltagssprache zurückzugreifen, dann erscheint das manchen Leuten als Fremdsprache. Also wenn man von Aneignung und Umbildung spricht, dann erscheint das fremdländisch. Das liegt aber daran, dass wir uns derart an das Wissenschaftschinesisch gewöhnt haben, dass wir überhaupt nicht mehr auf das achten können, was sich tatsächlich im Alltag abspielt. Und insofern ist die Alltagssprache der Morphologie, das Aufgreifen deutscher Bezeichnung, ein Bruch, um eine andere Sichtweise herauszustellen. Es geht ja nicht um diese einzelnen Worte, sondern es geht um zwei verschiedene Sorten von Psychologie, unter denen wir Wirklichkeit betrachten und die in eine Konkurrenz treten müssen, wenn wir den Versuch machen, etwas über seelische Wirkungszusammenhänge auszusagen.
Allerdings ist auch hier wieder zu berücksichtigen, dass sich alles verkehren lässt, alles was wir herausrücken, kann sich auch verselbständigen. Wir können auch die Sprache zur Verschönerung benutzen, Brüderlichkeit und solche Worte gehören dazu. Das ist aber genauso wie auf dem Markt, wenn man Äpfel sieht, die Äpfel, die besonders schön sind, die sich gut verkaufen lassen, die schmecken nicht, weil sie so verfeinert sind, dass sie jeder Konkurrenz mit einem verschrumpelten Apfel unterliegen würden. So kann es auch mit Worten werden. Es sind, glaube ich, immer ähnliche Gestaltverhältnisse, die wir aufgreifen, wenn wir uns mit der Wirklichkeit beschäftigen.
Die gelebten Bilder, das ist also die Ganzheit, in der wir denken. Es sind immer ganze Gebilde, ganze Dramen, ganze Ansichten, mit denen wir uns beschäftigen. Dazu habe ich das ganze ausgeführt, es gibt hier nie einen reinen Anfang. Jedes Bild bezieht sich auf andere Bilder, die es umformt. Und die Frage, um die es im Seelischen geht, ist immer die Frage, wie lässt sich etwas umwandeln? Wohin lässt sich etwas umwandeln? Was lässt sich umsehen, was lässt sich umsetzen? In diesem Prozess gewinnt das Seelische seinen Sinn. Das Seelische ist nicht bezogen auf irgendwelche festlegenden Eigenschaften, sondern es gewinnt seinen Sinn überhaupt nur, indem es sich in eine solche Entwicklung hineinbegibt. Diese Übergänge sind das Eigentliche. Es gibt nichts ‚Eigentliches‘ im Seelischen, sondern dieser Wandlungsprozess ist es, was diese seelischen Bilder leben.
Zu diesen Bildern muss ich noch etwas ergänzen, und das ist etwas, was auch gerade unsere Zeit angeht. Die Bilder, von denen wir reden, die wir leben, sind packende Bilder. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Bilder jetzt missverstehen als etwas Harmonisches, als etwas Schönes oder als etwas, das immer eine gute Lösung gibt.
Zum 60. Jahrestag der Machtergreifung am Samstag lief ein schwedischer Dokumentarfilm über Hitler. Der war interessant für Psychologen, die etwas über Bilder wissen wollen. Hitler war ein gescheiterter Künstler. Er wollte immer ein Bildner sein. Das zeigt der Film. Das ist für uns eine sehr bedeutsame Angelegenheit, einmal zu sehen, was in den Bildern steckt und mit welchen Bildern man zu welch gefährlichen Entwicklungen kommen kann. Hitler hatte die Idee, er müsse eine Sauber-Kunst entwickeln. Ich habe bei der Gelegenheit erfahren, dass er von der deutschen Kunstausstellung in München immer die Hälfte der Bilder kaufte. Dieses ganze scheußliche Zeug kaufte er tatsächlich, weil er das für die Kunst hielt, auf die er ein ganzes Volk trimmen wollte. Daneben eine gigantische Architektur. Straßen, wo 60 Leute nebeneinander gehen konnten; Straßen, wo also auf dem Märzfeld in Nürnberg eine halbe Million Menschen hintereinander auf der Straße stehen konnten. Das waren natürlich, so würden wir sagen, idiotische Projekte, aber das Furchtbare war, dass diese Bilder jetzt praktiziert wurden als Bilder, die andere Feindbilder vernichteten. Dazu wurde Krieg geführt, um diese Bilder durchzusetzen gegen die “Ratten”, die “Unsauberen”, die “Krebsgeschwüre” der Wirklichkeit.
Der schwedische Film zeigt nun, wie ein ganz bestimmtes Kunstbild, das diese Ideologie herausstellte, immer wieder sich umsetzte in eine kriegerische Handlung, wo alles, was nicht in dieses Sauberkeitsbild und dieses Aufmarschbild passte, vernichtet wurde. Da sehen wir, was ein wirksames Bild ist und wir werden gewarnt anzunehmen, Bilder als etwas anzusehen, das immer zu einer schönen Lösung führt. Wir können anhand dieser Darstellung in dem schwedischen Film auch deutlich machen, dass diese Bilder der ‚Angstbekämpfung‘ dienen. Offenbar war es eine kleinbürgerliche Angst und zugleich ein kleinbürgerlicher Schöpfer, der sich hier austobte, und wenn wir das Wort kleinbürgerlich ersetzen, dann kommen wir schließlich auf das Nietzsche-Wort vom Ressentiment. Es war das Drama des Ressentiments, das seine Bilder gesucht hatte und das seine Bilder in einer furchtbaren Vernichtungsaktion auch durchsetzte, weil sie offenbar schreckliche Vereinfachungen waren.
Das sollten wir nicht vergessen. Dann verstehen Sie besser, was damit gemeint ist, wenn wir sagen, die Bilder, die sind Versuche, etwas auszudrücken, was uns im Seelischen bewegt. Die Bilder sind ein Versuch, mit der Unruhe des Seelischen fertigzuwerden, ihr eine Fassung zu geben. Das hört sich ja immer so elegant formuliert an. Wir müssen mitsehen, wohin uns das mitreißt, diese Machtergreifung vor 60 Jahren. Die Bilder, die drücken furchtbare Vernichtungen aus, Ängste, die nur dadurch bewältigt werden können, dass andere Menschen umgebracht werden. Dann sehen wir, was es heißt, Bilder drücken aus, was an Unruhe und Explosivität das Seelische bestimmt. Wir sehen noch etwas anderes. Die Bilder sind immer zugleich, wenn sie gelebte Bilder sind, Bilder, in denen Wirkungsqualitäten und Wirkungsverhältnisse eine Rolle spielen. Die Bilder haben etwas zu tun mit Bindungen und Zerstörungen, sie haben etwas zu tun mit Treue und Verrat, mit der Schließung von festen Gestalten und dem Versuch, ständig über alles, was fest ist, hinauszugehen. Nur dann sprechen wir von gelebten Bildern und nur dann können wir auch verstehen, wie daraus jetzt Kunst erwächst.
3. Kunst
Die Kunst existiert nicht davon getrennt. Sie ist nicht ein Sonderbereich, sie ist nicht etwas Reines und Eigenes, sondern die Kunst erwächst aus diesen Wirkungsqualitäten. Sie hat zunächst einmal zu tun mit Bindung, Zerstörung, Verrat, Schließung, Treue. Nur darin kommt die Kunst zur Geltung. Dann können wir aber auch verstehen, dass die Kunst nichts Formales ist, sondern dass sie etwas ist, was mit dieser Wirklichkeit, die wir packen wollen und die uns packt, fertig zu werden sucht.
In unseren Diplomarbeiten, die gerade laufen, haben wir eine ganze Reihe von Übergängen zwischen dieser seelischen Wirklichkeit, die wir eben bei den Bildern besprochen haben, und der Wirklichkeit der Kunst festgestellt. Und das müssen wir auch vor Augen führen. Wenn wir beispielsweise Horoskope haben, dann sind das Ausdrucksformen, um etwas zu packen, um fertig zu werden mit der Doppelsinnigkeit des Seelischen, um einen Platz zu finden, den wir selber nicht finden können. Genauso ist es mit Sprüchen oder den Psychotests in Zeitschriften. Die Psychotests sind die Literatur, mit deren Hilfe wir festzustellen versuchen, wie existiere ich denn überhaupt unter den Blicken der anderen. Das ist ein Kultivierungsprozess und das ist zugleich auch immer schon ein Übergang zur Literatur, denn wir merken daran, dass die Literatur auch etwas ist, was uns Unterricht gibt. Literatur gibt psychologischen Unterricht. Literatur ist etwas, was uns fassbar zu machen sucht, wie wir die Wirklichkeit in den Griff nehmen können. Literatur macht das Leben verdaulich, kann man sagen. Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns.
Auch wenn wir von der Kunst sprechen als Entwicklungsding, auch dann beziehen wir uns zunächst einmal auf die gelebte Wirklichkeit, auf Zigaretten, Möbel, Seife, Kuchen, das sind Produktionsdinge, das sind sozusagen Vorwerke, in denen wir bestimmte Wirkungsqualitäten aufgreifen. In den Möbeln erfahren wir etwas über die Qualität von Kontinuität. Wir erfahren, was sich weiterschleppt durch unsere Lebensgeschichte hindurch, wir erfahren auch etwas über das Dazwischen und wir verweilen sehr lange im Dazwischen, bis wir es auf den Müll werfen. Da machen wir fassbar und ich glaube, dass wir auch, wenn wir diese Produktionsdinge sehen, erst verstehen, inwiefern das Kunstwerk ein Ding ist, das uns Entwicklung fassbar zu machen sucht.
Ich wollte jetzt noch etwas über den Vampir-Film sagen, weil das so schön ist, aber ich komme, glaube ich, sonst nicht hin. Ich lasse daher den Vampir-Film auf sich beruhen und sage nur etwas über die bildende Kunst. In der bildenden Kunst stellen wir fest, wie ganz bestimmte Dingstrukturen weitergeführt werden. Wir haben beim Unterricht davon gesprochen, dass man den Stoffwechsel auf einen Prototyp bringen kann, der einer Acht entspricht, einer unendlichen Schleife (∞). Wenn wir jetzt Bilder von Goya ansehen, dann merken wir, dass die Grundstruktur seiner Bilder oft so aufgebaut ist wie diese Schleife, aber er spricht nicht über den Stoffwechsel, sondern über das Verhältnis von Männern und Frauen. Das nannte Goya ein universales Idiom oder eine universale Sprache. Die Kunst versucht tatsächlich, solche Dinge herauszustellen, die wir in einer universalen Sprache verstehen.
Um noch einmal auf die Morphologie zu kommen:
Picasso zeigt uns die Wirklichkeit, wo hinten und vorn, oben und unten in ein Bild gebracht ist, unabhängig vom Fotoapparat, und das entspricht ja auch dem Versuch der Morphologie, solche mehrdimensionalen Dinge zu entwickeln. Diese kubistischen Angelegenheiten sind Dinge, und sie sind in gewisser Weise Entwicklungsdinge, in denen wir das Seelische fassbar zu machen suchen; und ich glaube auch, die heutige Vorlesung ist wieder so ein Bild für den Seelen-Kubismus, wo Sie allerlei von hinten und von vorn zugleich sehen müssen, um den Zusammenhang zu kriegen.
Das, so meine ich, ist das Schöne an unseren Untersuchungen, dass wir tatsächlich zeigen können, wie schon im Ding-Begriff, den wir im Alltag haben, etwas aufkommt, was dann in der Kunst eine ganz besondere Weite erreicht.
Die Kunst geht zwar aus den Bildern der Wirklichkeit hervor, führt sie weiter, aber zugleich versucht sie eine eigene Stufe des Umgangs mit der Wirklichkeit zu erreichen. Die Kunst wird zu einem Urphänomen für das, was wir psychologisch unter Gestalt oder Bildern verstehen. Was ein Bild ist, das können wir uns an den Bildern, die die Kunst herausstellt, besonders deutlich machen.
Wir merken dabei auch, dass die Kunst noch etwas tut; etwas was uns ungemein schwer fällt. Wenn wir ein Bild leben, verfolgen wir eine Ansicht, haben wir eine Richtung, versuchen wir eine Perspektive durchzuhalten. Das geht gar nicht anders, sonst können wir gar nicht existieren. Denn der Handelnde folgt immer einem Bild und ist im Hinblick auf andere Bilder gewissenlos, wie bereits Nietzsche gesagt hat. In der Kunst aber versuchen wir in diesem Entwicklungsding eine Perspektive zu sehen und zugleich einen Perspektivenwechsel zu betreiben. Picasso malt Velasquez und zugleich, wie man Velasquez auch noch malen könnte, nämlich als Picasso. Er malt Manet und er malt zugleich, wie dieser Manet auch noch anders zu sehen wäre. Für mich ist die Steigerung, er malt Picasso und dann malt er einen Picasso von diesem Picasso, wie man den anders sehen könnte. Hier sehen wir auch, dass es Steigerungen gibt und dass die Kunst nicht allein Weiterführung, sondern in ihren Entwicklungsdingen auch eine Steigerung ist.
4. Kultur
Damit bin ich bei dem Übergang von Kunst und Kultur angelangt. Die Morphologie versucht eine konkrete Kultur-Psychologie zu entwickeln. Alles das, was sie über Bilder und Kunst sagt, muss sich irgendwie in den Alltagsbildern zeigen. Was wir nicht im Alltag beschreiben können, was wir nicht im Umgang mit der Kunst vorfinden, das ist auch nicht. Daher haben wir auch immer etwas gegen die Kunst an sich.
Was ist nun die Kultur demgegenüber? Die Kultur ist ein Versuch, eine gelebte Richtung herauszuarbeiten, eine, die entschieden mehr ist, eine, die eine Einheitlichkeit in die Vielfalt dieser Wirkungseinheiten und Bilder bringt. Die Kultur ist der Versuch, einen einheitlichen lebensfähigen Wirkungsraum darzustellen, eine Wirkungsrichtung durchzusetzen, und zwar durch alle einzelnen Bilder, durch alle einzelnen Wirkungseinheiten und Zusammenhänge, die sich bilden können, hindurch.
Die Kunst tanzt der Kultur voran. Die Kunst versucht, einheitliche Bilder herauszustellen, die uns faszinieren und die Kunst versucht, damit den Fortschritt der Kultur einzuleiten. Sie versucht der Kultur deutlich zu machen, in der Richtung müsst ihr gehen. Dadurch kommt es zu einer Konkurrenz zwischen der Kultur und der Kunst.
Umgekehrt kann die Kultur natürlich immer wieder der Kunst sagen, soweit kommst du ja gar nicht, da ist so viel drin. Was du an ausgeprägten Gestalten lieferst, das kann immer nur eins davon fassen.
Ich glaube, dass wir von da aus verstehen können, was eine Kultur bedeutet im Verhältnis zu Bildern, im Verhältnis zur Kunst und zur Wirklichkeit. Die Kultur tritt in einen Prozess der Auseinandersetzung ein. Was wir gesagt haben über das Verhältnis zwischen Werken und Verwandlung, was wir gesagt haben über die verschiedenen Bedingungen zueinander in den Wirkungseinheiten, das können wir auch alles sagen über das Verhältnis von Kunst und Kultur, von Kunst und Bild. Auf der einen Seite erscheinen die Kunst und die Kultur wie ein Text und das andere, was wir in diesem Drehkreis haben, das erscheint dann wie die Oper zu diesem Text. Und das kann sich ändern. Mal bringt die Kultur die Kunst in Bewegung, mal bringt die Kunst Kultur und Bilder in Bewegung. Es ist also das gleiche Grundverhältnis, wie sich mehrere Bedingungen vorantreiben.
5. Morphologie
Ich habe gedacht, es ist gar nicht schlecht, wenn ich, wie in allen meinen Vorlesungen, auch in dieser Vorlesung das ganze etwas fragmentarisch enden lasse. Denn wir kommen nie zu einem Ende. Und es genügt, wenn man sieht, wir kommen immer wieder in neue Verhältnisse und Probleme hinein und dann kommt auch etwas Neues heraus.
Das glaube ich, ist das Wichtigste bei dieser ganzen Darstellung einer Morphologie von Wirkungseinheiten. Wir müssen sehen, die eigentümliche Welt, mit der sich die Psychologie beschäftigt, das ist eine Wirkwelt. Ohne die Medien dieser Wirkungswelt geht überhaupt nichts im Seelischen.
Das Seelische ist nicht abgetrennt von Kultur, Bildern, Literatur, von den Werken, die wir einrichten. Das Seelische ist nur in dieser Wirkungswelt und diese Wirkungswelt ist zugleich die Rechtfertigung der Psychologie, denn wir können sie nirgendwo unterbringen, nicht in der Physik, nicht in der Medizin. Diese Wirkungswelt ist etwas Spezifisches, auf die wir Psychologen uns beziehen.
Die Morphologie ist ein Versuch, an diese Wirklichkeit heranzukommen. Die Wirklichkeit mag phantastisch erscheinen, mit der wir uns beschäftigen, da wir der Meinung sind, dass das eine Wirklichkeit ist, bei der alles nur in Verwandlung eigentlich wird. Aber ich glaube, das Entscheidende bei der Morphologie ist nicht allein, dass sie eine andere Sicht auf diese Wirklichkeit hat, sondern dass sie es auch mit einiger Sturheit tut im Hinblick auf System und Methode. Ohne Methode, ohne dass Sie Schritt um Schritt so vorgehen, wie wir uns das in unseren Drehfiguren klargemacht haben, ohne diese Methode können Sie mit der phantastischen Wirklichkeit nicht umgehen.