Wilhelm Salber starb am 2. Dezember 2016. Anlässlich seines neunten Todestages möchten wir an Salbers Zugang zur Kunst erinnern. Grundlage ist ein Text, den er über einen Besuch in der Monet-Ausstellung 2009/2010 im Von der Heydt Museum (Wuppertal) in anders 2/2010 schrieb. Seine Führung durch die etwa einhundert Bilder umfassende Ausstellung bezieht das Werk des berühmten französischen Malers (1840-1926) auf den Prometheus-Mythos.

Schöpfungsmythos

Salber beschäftigte sich wiederholt mit Schöpfungsmythen. Aber von dem Mythos des Prometheus war er besonders angetan. Hier fand er alles, was er brauchte, um seine Psychologische Morphologie aufzuspannen. Da sind die Menschen, denen Prometheus Seele und Feuer brachte. Damit schuf der Titan die Grundlage für die Erde als Wirkwelt. Denn Seele und Feuer setzen die Dinge der Welt zueinander in Beziehung und verwandeln sie. Prometheus’ Schöpfung hält die Menschen zur Tätigkeit an. Sie müssen ihr Leben zwischen der Ordnung der alten und den Versprechungen der neuen ‘Götter’ aufstellen. Sie müssen mit dem in der Wirklichkeit angelegten Leiden, der Büchse der Pandora, leben. In der Götterlehre von Karl Philipp Moriz findet man eine zugleich umfassende und konzentrierte Zusammenfassung des Prometheus-Mythos.

Annäherung an Monet

Zunächst sucht Salber nach Anhaltspunkten, die ihm einen Zugang zu Monets Werk eröffnen. Er stellt fest, dass viele der Bilder hell wirken, als seien sie in der Sonne gemalt. Flirrende Farben sind dominant, aber zugleich heben sich Zusammenhänge heraus: Heuhaufen, Pappelreihen, die Kathedrale von Rouen, Seerosenteiche. Die in der Ausstellung nach der Zeit ihres Entstehens angeordneten Bilder zeigen, dass sich der französische Künstler diese Malweise allmählich erarbeitete. Seine ersten Bilder hätten sich noch als Vorlage für eine Familienzeitschrift geeignet. Er brauchte seine Zeit des beharrlichen Ausprobierens, um „Monet“ zu werden. Und als solcher ruft er bei den Besuchern Widerstände des Üblichen und ‘Normalen’ auf. Es braucht Ausdauer und Geduld, sich mit Monets späten Bildern anzufreunden. Aber wenn man durchhält, beziehen sie ein in die Schöpfungsgesetze von Zusammenhang überhaupt. Sie veranschaulichen die Wirkwelt, wie Prometheus sie geschaffen hat.

Charakteristisches

Salber stellt das Besondere und Neue an Monets Kunst heraus. Die meisten Kunstwerke seiner Zeit erzählten Geschichten von historischen Ereignissen und Göttern. Monet hingegen fand zu einer Ausdrucksform, in der Farbkontraste, Vages, Konstruktion und Gegenstände gleichsam miteinander sprechen. Nicht muskulöse Figuren machen bei ihm die Dramatik, sondern die sublimen Bewegungen, die sich im Betrachter einstellen, wenn er sich auf die Bilder einlässt. Es entfaltet sich eine Dramatik des Zugleich oder Indem und nicht die Spannung, die aus der Abfolge von äußeren Ereignissen entsteht.

Monets Bildern geht es nicht um den Physikalismus von Körpern. Sie stellen nicht Einzelheiten nebeneinander. Sie streben keine Genauigkeit und Perfektion in der Darstellung an. Aber sie stellen eine anschauliche Grundlage bereit, über die wir etwas über die Wirklichkeit und ihre Herstellungsprozesse erfahren können.

Universale Herstellungsprozesse

Salbers Text geht mehr und mehr auf universale Herstellungsprozesse ein. Sie bilden Ganzheiten aus, die den Einzelheiten ihren Platz zuweisen. Monets Farbpinsel sucht sie ins Werk zu setzen. Ein Geben und Nehmen zwischen dem Ganzen und seinen Gliedern wird sichtbar. Eine Pappelreihe im Herbst beeindruckt nicht nur mit leuchtenden, orange-roten Farben, sondern auch durch die Ausbildung einer alles durchziehenden, dynamischen Form. Hier handelt es sich um ein riesiges ‘Z’. Für Salber spiegelt sich in diesem unwahrscheinlich-wirklichen Bild die Art und Weise, in der Ganzheiten die Vielfalt der Wirklichkeit in ihre Logik einbeziehen. Eroberung von Landschaft durch Formen!

Psychästhetik

Folgerichtig geht Salbers Kunstbetrachtung auch auf Analogien zwischen bildender Kunst und Psychischem ein. Wenn wir uns mit Muße auf die Bilder Monets einlassen, einen Stuhl heranziehen und uns schauend vor sie setzen, wenn wir deren Übergänge sich entfalten lassen, erfahren wir nicht nur etwas über die Realität im Werden. Im Verweilen werden wir zudem darauf aufmerksam, dass sich in den Bildern Bewegungen unserer psychischen Wirkwelt spiegeln.

Die Kunst der Beschreibung

Salbers Umgang mit den Bildern macht deutlich, wie Beschreibung in der Kunstpsychologie vor sich geht: „Zwischen einem beweglichen Verweilen und dem Verfolgen von Gestalten, zwischen unserer Mitbewegung und der Erwartung eines ganzen Werkes“ (48).  Ein solches Herangehen an Monets Werk verhindert dessen beliebte Stilllegung durch Schwärmereien wie „Ach wie schön! Diese Farben!“ Die Beschreibung verhindert zudem, dass diese eigenartige, unvertraute Kunst zu unserem ‘Feind’ wird, an dem wir schnell vorbeikommen müssen. Im beschreibenden Verweilen geben wir unsere schnell zupackenden Einordnungsmuster auf und bekommen dafür eine Ahnung von der bildlogischen Beschaffenheit der psychischen Wirkwelt.

Herstellung von Wirklichkeit

Auf diese Weise findet Salber in dem Werk Claude Monets die prometheische Weltsicht wieder. Denn in dessen Bildern geht es um ein Herausbilden von Zusammenhängen, um die Darstellung von Wirklichkeit, die mit sich selbst im Gespräch ist.

„Zwischen sinnlicher Fülle und konstruktiven Entwürfen bilden sich die Wege der Wirklichkeit heraus, auf denen wir den Sinn der Wirklichkeit hier und jetzt erfahren.“ (50)

Indem wir die Bewegungen unseres Erlebens gegenüber Monets Bildern zerdehnen und zergliedern, beginnt uns der “Sinn der Wirklichkeit” zu packen. Monets Pappeln, Heuhaufen, die Kathedrale und die Seerosen sind keine Abbildungen. Sie führen in die Werkstatt einer Wirklichkeit, die sich selbst immer wieder neu erschafft. So wie Prometheus sie bereitstellte.

Heuhaufen in Brandenburg

Wirksame Zusammenhänge

Eine Gegenüberstellung von Foto und Gemälde kann dies verdeutlichen. Machen wir von einem Heuhaufen – zum Beispiel in Brandenburg – ein Foto, fixieren wir das vorgefundene Objekt. Wir halten einen Gegenstand fest, aber wir treffen damit noch keine Aussage über die Stellung des Heuhaufens in einer Welt, die sich wandelt. Genau das aber ist das Anliegen Monets.

Monet: Heuhaufen (1888 – 1889)

Monet betrachtet das Objekt nicht isoliert. Im Gegenteil, er sucht es im Ganzen der Wirklichkeit zu verankern. Er wählt einen Moment, in dem das Licht, der Himmel, die Berge und das Heu in ihrem Zusammenwirken einzigartige Farben produzieren. Er hält eine kurze Zeitspanne des Selbstgesprächs der Wirklichkeit fest und macht darauf aufmerksam, dass es dieses unablässige Gespräch ist, das die Dinge herstellt.

Monet: Kathedrale von Rouen (1894)

Ähnlich ist es bei der Kathedrale von Rouen. Deren Besucher stellen sich heute auf den Vorplatz und machen ein Foto. Dann gehen sie weiter. Monet wird viele Stunden vor dem Gebäude gesessen haben. Im Zuge seines Verweilens mag es angefangen haben sich selbst in seinem Werden und Vergehen darzustellen.

Seit Jahrhunderten setzt sich die Fassade der Kathedrale dem Wetter, dem Licht und dem Regen aus. Sie wirkt, als habe sie in einem Strom des Werdens gestanden. Das Bild macht spürbar, was die fließende Wirklichkeit an den Gegenständen, an den Steinen und Gebäuden der Menschen vollbringt.

Ähnlich kann man das untenstehende, späte Bild der Seerosen verstehen. Der Tanz des Lichtes, die Spiegelungen der Bäume hinterlassen auf den Blüten und Blättern, auf dem Wasser ihre Spuren. “Eine Welt in Schwingungen, ein Kosmos, Abglanz eines unfassbaren Ganzen.” (49) Auch hier zeigt sich die Wirklichkeit in Bewegung und in der Produktion immer neuer Farben, Konstellationen und Bilder. Und doch bleibt das Ganze ein Seerosenteich.

Und noch einmal Prometheus

Zusammenhang ist für Wilhelm Salber die Existenzform der seelischen Wirkwelt. Um uns das vor Augen zu führen, können wir die wunderbaren Bilder des Claude Monet betrachten. Monets Heuhaufen, seine Kathedrale von Rouen und seine Seerosen sind auf der einen Seite unmögliche Dinge. So haben wir sie noch nicht gesehen. Aber die Kunstbeschreibung erkennt sie als wirklich. Sie sind Zusammenhänge der Wirkwelt. Oder, wenn man so will, Zusammenhänge der von Prometheus geschaffenen Welt.

Über die Psychologische Morphologie Wilhelm Salbers haben wir Wertvolles über Zusammenhänge der Wirkwelt erfahren. Wie Monet sah auch Salber diese Welt ganz anders, als wir dachten. Das war nicht leicht zu fassen. Monets Bilder können dem geduldigen Betrachter heute nahebringen, was an Salbers Morphologie so fremd ist.

Salbers Kunstpsychologie heute

Salbers Zugang zur Kunst lebt heute in vielen Arbeiten und Tätigkeiten seiner Schüler weiter. Wir wollen an dieser Stelle und zu dem gegebenen Anlass auf einige aktuelle hinweisen:

Schluss

Wilhelm Salber ist von neun Jahren gestorben. Aber die oben aufgezählten Aktivitäten von Morphologen zeigen, dass seine Kunstpsychologie weiterhin lebendig ist und dabei hilft, die seelische Wirkwelt zu verstehen.

Der Beitrag wurde verfasst von Dirk Blothner
Monet: Seerosen (nach 1916)