Norbert Endres rezensiert das Buch von Wolfram Domke: Allerweltsdinge und ihre psychologischen Geheimnisse. Es zählt 376 Seiten, ist im Verlag Zwischenschritte erschienen und kann im Buchhandel für € 25,- erworben werden.
I
Mit der Ausarbeitung seines Konzepts einer Morphologischen Psychologie hat Wilhelm Salber in einmaliger Weise die Welt psychologisch neu ‚vermessen‘. Er hat dabei nicht nur die Gegenstandsbildungen, in denen wir das Seelische konkret zu fassen versuchen, in Blick gebracht, sondern auch die Grundkategorien und Mechanismen differenziert benannt, die die Konstruktion dieser Gegenstände wirklich tragen – angefangen von den aktuellen „Handlungseinheiten“ unseres Alltags bis hin zu den übergreifenden „Wirkungseinheiten“, die unsere Kultur und unser ‚In-der-Welt-Sein‘ bestimmen – individuell wie kollektiv.
W. Salber hat das in vielen Büchern systematisch entwickelt und grundbegrifflich ausgeführt. Dass das nicht ‚ad usum delphini‘ geschehen konnte, sollte jedem ernsten Wissenschaftsanspruch klar sein. Es hat den Salberschen Veröffentlichungen allerdings den Ruf eingebracht, “schwer verständlich“ zu sein. Vom ‚mainstream‘ wurde das oft auch auf die Morphologische Psychologie als Ganzer übertragen. Dass diese Einschätzung nicht wirklich zutrifft, zeigt die im Frühjahr erschienene ganz vom Denken, Sehen und Fragen der Morphologischen Psychologie bestimmte Aufsatzsammlung „Allerweltsdinge“ (2024) von Wolfram Domke.
Wie ein spannendes Lesebuch nimmt diese Sammlung den Leser mit auf eine psychologische Entdeckungs-Reise in die Welt seelischer Dinge und ihrer Geheimnisse, die wir zwar immer schon erahnen, deren Wirklichkeit wir aber in den Selbstverständlichkeiten unseres meist ‚grau‘ gehaltenen Alltags übersehen oder sogar still gelegt haben. Für die Einübung in das Denken der Morphologischen Psychologie ist das Buch ein wirklicher Glücksfall, nicht weniger aber auch für den Nachweis seiner analytischen Kraft.
II
Das Buch versammelt Arbeiten aus mehr als vierzig Jahren. 58 Allerweltsdinge werden darin zu Dreh- und Angelpunkten seelischer Zusammenhänge von universeller Reichweite.
Das fängt an, um nur einige zu nennen, mit Beiträgen zu Kummerbriefen, zum Spiel ‚Mensch-ärger-dich-nicht‘ oder zu den „Eingesperrte(n) Entwicklungsmöglichkeiten“ bei Delinquenz, geht weiter über den Tod des Rennfahrers Senna (1994), den Rückspiegel im Auto oder eine Motorradreise von Che Guevarra und über eine Reihe verschiedenster Medien wie dem „Lokalradio“ oder der Filmfigur ‚Inspektor Colombo‘ bis hin zu Dingen wie unseren „Kramschubladen“ oder unserer Kleidung, deren „wie in einem Deckmantel“ verborgene Märchenstrukturen jeweils analysiert werden. Am Ende kommen ‚Fußballdinge’ als „unser (Neben-)Leben“ und „Kunst-Stücke“ wie beispielsweise ein Film Picassos oder die „malerischen“ Ruinen der Mayas im südamerikanischen Dschungel in den Blick.
Es sind wirklich Allerweltsdinge im doppelten Sinn. Wir kennen sie aus unserem Alltag und finden sie zugleich über die ganze Welt verstreut. Als ‚Seelendinge‘ entwickelt sie W. Domke in mitbewegten Beschreibungen, die in vielfältigem Austausch von persönlichen Geschichten, sachlichen Beobachtungen und psychologischen Grundkategorien oft in Verbindung auch mit literarischen Texten dem Leser genug Zeit lassen für die Fertigung seines eigenen Verstehens von unvertrauten, manchmal auch ungeheuren Wendungen. Deutlich wird dabei: Die Verwandlungswirklichkeit des Seelischen gibt es nicht ohne die Dinge der sogenannten ‚äußeren‘ Welt. Seelisches ist „bedingtes Leben“ (F.W.Heubach).
Höchst einprägsam zeigt das beispielsweise der Beitrag „Aal-Morphologie“. In Ergänzung einer kindlichen Schreckerfahrung beim nächtlichen Fang eines Aals zunächst durch die genaue Beschreibung der zappelnden Aal-Gestalt selber und dann durch die Verfolgung seiner unglaublichen Metamorphose auf der ‚Wanderung‘ vom Ort der Schlammgeburt jedes Aals im Saragossosee bei Florida bis in unsere Gewässer und schließlich im Austausch mit S.Freuds Analyse des Unheimlichen als einer „Doppelgestalt“ zeigt sich, wie im ‚Aal‘ grundlegende Kategorien der Psychologischen Morphologie als einer Lehre von Gestalt und Wandlung verständlich gemacht werden können. Die wunderbare Analyse der „Tür als Seelenmechanismus“ wäre ein weiteres der vielen beeindruckenden Beispiele des Buches für unser bedingtes Leben.
Dass die Psychologie in ihren Fallrekonstruktionen sehr gewinnbringend auch mit literarischen Beschreibungen aus den Werken großer Schriftsteller arbeiten kann, zeigt, um noch ein Beispiel zu nennen, die einfühlsame Beschreibung „Ödipus im Schuh“. Sie nutzt das „Anziehen des ersten Schuhs“, das Amos Oz in seinem autobiographischen Werk „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ so minutiös wie erlebensnah erinnert, dass man wirklich den Eindruck bekommt, „Ödipales auf frischer Tat“ (Domke) zu ertappen. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
W. Domke beschenkt uns aber nicht nur mit einem spannenden Lesebuch voller neuer Einsichten. Seine Aufsatzsammlung kann, wie die Beispiele vielleicht schon andeuten, auch genutzt werden als eine Art Lehrbuch der Psychologischen Morphologie überhaupt. Gleichsam in 58 Lektionen zeigt sie, wie gelungene Verhaltens- und Erlebensbeschreibungen aussehen und wie produktiv es ist, in Versionen von Gestalt und Wandlung zu denken, oder wie eine Psychologische Märchenanalyse betrieben werden kann, der die herausfordernde Auffassung von Seelischem als eine von bildlogischen Gesetzen bestimmte Wirklichkeit („Drehgesetze“) zugrunde liegt u.a.m. Würde man alle diese Lektionen zusammenstellen, es käme ein recht beeindruckendes Glossar der Morphologischen Psychologie und ihrer Methode heraus.
III
Viele der Untersuchungen von W. Domke sind nicht ganz neu. Als Kollege hat man sie bei ihrem Erscheinen in den „Zwischenschritten“ oder in „anders“ früher schon aufmerksam gelesen und auch geschätzt. Was jetzt aber erst wirklich deutlich wird:
Das Buch von Wolfram Domke ist viel mehr als nur eine Sammlung von Arbeiten gegen Ende eines Forscherlebens. Es verweist auf ein wissenschaftliches Gesamt-Werk von beeindruckender methodischer Konsequenz und erscheint so wie ein Projekt, das von Anfang ‚wusste‘, was es wollte. Ein Werk, das sich offensichtlich immer wieder auch in ganz persönlichen Begegnungen des Autors von der (ewigen) Lust des Seelischen an der Verwandlung und seinen Inkarnationen anstoßen und berühren lässt.
Das hat Texte ganz besonderer Art hervorgebracht. Über den psychologischen Erkenntnisgewinn hinaus wirken sie eigentümlich befreiend. Als wäre man beim Lesen in eine andere Welt eingetaucht. Eine im Vergleich zur Alltagsenge heilsam gedehnte Welt, in der die Dinge neu zu sprechen, vielleicht sogar, wie Rilke in einem Gedicht schwärmt, zu „singen“ beginnen. Für die Psychologische Psychologie ist das Buch wirklich ein Highlight. Und mit den vielen passenden Zeichnungen aus dem Nachlass von Wilhelm Salber auch ein Geschenk, für das man nur danken kann!