Am 9. März 2023 wäre Wilhelm Salber 95 Jahre alt geworden. Dieser Tag ist Anlass für uns, auf ein kleines, aber ungewöhnliches Stück Kunstanalyse von ihm aufmerksam zu machen. In einem Band über den Maler Alessandro Magnasco (1667 bis 1749) haben wir vier Notizzettel gefunden, die auf das Werk des italienischen Künstlers zwischen Barock und Rokoko eingehen. Wie immer bei Salber führt ihn die Beschreibung und Analyse von Kunst zu Einsichten in die Konstruktion der menschlichen Wirklichkeit.

Bei dem Band handelt es sich um den 1996 im Electa Verlag erschienenen Katalog einer Ausstellung im Palazzo Reale, Mailand.

Der Katalog in der Wilhelm-Salber-Bibliothek. Titelbild: Catechismo in chiesa

Die manieristisch anmutende Malweise des Italieners hat den morphologischen Blick Salbers offenbar angezogen. In einer Notiz hat er den Eindruck festgehalten, dass Magnasco wohl Künstler beeinflusst hatte, die Salber selbst außerordentlich geschätzt hat: Francisco Goya (1746 – 1828), Thomas Rowlandson (1757 – 1827) und Honoré Daumier (1808 – 1879).

Flackerndes in einer flackernden Welt

Da sie Salbers Umgang mit Kunst an einem Beispiel veranschaulichen, wollen wir die wichtigsten, auf das oben gezeigte Titelblatt des Katalogs bezogenen, Notizen an dieser Stelle veröffentlichen und kommentieren. Mit dem Satz “von der Beschreibung auf Verwandlungs-Sorten zugehen!” (s.u. auf der Abb. im unteren Bereich) richtet Salber sein Vorgehen aus. Für die morphologische Methode ist das ein vertrauter Grundsatz. Aber es scheint, als habe auch Salber sich hin und wieder selbst daran erinnern wollen.

Folgende Notizen folgen dem Blick des Psychologen auf Magnascos Bild:

„dieses Blau-Gelb-Flackern als Bildrhythmik von My-Komplexen; mit ins Flackern eingefügten Licht-Schatten-Bewegungen“

Hiermit hält Salber zunächst eine Gesamtqualität des Bildes fest: Blau-Gelb-Flackern. Die blauen und gelben Figuren bilden zusammen einen farbigen Rhythmus von kleinen Komplexen im Sinne der vielfältigen Lebensformen und Stundenwelten, die sich über den großen Saal verteilen. Eine Musterung findet das Flackern durch den Wechsel von Licht und Schatten, der es in sich aufnimmt.

„geometrisch zentrierte Rahmungen, die Flackern im Rahmen halten“

Einen anderen Aspekt bilden Formen wie aufstrebende Säulen, quer liegende Bodenplatten, die das Flackern beruhigen indem sie ihm ein ausrichtendes Muster anbieten.

„Dreh- und Fluss-Transformationen, die Flackerndes in einer flackernden Welt bewegen“

Jetzt kommt Salber auf die Morphologie des Bildes zu sprechen. Er hebt übergreifende, drehende und fließende  Bewegungen heraus. Auch ihnen verleiht er die Qualität des Flackernden. Damit wiederum ist es ihm für einen Moment möglich, Wirklichkeit überhaupt als Flackern zu sehen, das eine Vielfalt von unruhigen Gestalten in sich aufnimmt.

“Wirkungseinheit ‘Belehrung’; Katechismen-Wirkungseinheit”

Mit dieser Anmerkung greift Salber die konkrete Szene und den Titel des Bildes auf: “Catechismo in chiesa”. Denn auch das trägt zur Sinnentfaltung bei. Er fasst die vorangestellten Anmerkungen in der Art zusammen, dass hier offenbar eine Wirkungseinheit ins Bild gerückt wird. Es handelt sich um die Wirkungseinheit “Belehrung”. Noch ein Stück näher am Titel: “Katechismen-Wirkungseinheit”.

Erziehung in einer flackernden Welt

Es macht durchaus Sinn, eine Ansammlung von Kindern als Aufflackern von “My-Komplexen” – also kleinen Verwandlungssorten – zu sehen. Damals wie heute stellen diese brodelnden Gestaltungen Lehrer und Erzieher vor Herausforderungen und bringen sie nicht selten an die Grenze ihrer Professionalität.

Heute verstehen viele Kinder die Schule weniger als einen Ort, an dem sie etwas über das Leben, über die Welt lernen können. Sie nehmen den Unterricht in kauf, weil sie sich in der Schule zusammen mit anderen in mitreißende “My-Komplexe” stürzen können. Sie haben die Bewegtheit, die Verwandlungskraft des Seelischen entdeckt und wollen sie intensiv betreiben.

Auf dem oben gezeigten Bild wird die Unruhe der Kinder des frühen 18. Jahrhundert in den Rahmen von quer ziehenden Linien der Bodenplatten und den senkrecht stehenden Säulen und Aufbauten verrückt. Man erkennt das Bemühen von Lehrern und Geistlichen, sie auf den Katechismus auszurichten und damit auf ein bestehendes und damals starkes Kulturbild einzuschwören.

Die Frage, die uns Psychologen beschäftigt, ist: welche Alltagsformen bietet die Kultur dieser Hingabe an Verwandlung heute an? An welchem als bedeutsam erlebten Bild möchte die Kultur ihre Heranwachsenden einladen teilzunehmen?

Der zentrale Notizzettel zu A. Magnasco

Der offene Blick

Die Notizen zu Alessandro Magnasco dokumentieren den einzigartigen Umgang mit Kunstwerken, den Salber entwickelt hat. Wir finden in den Notizen keine Wissensdemonstrationen des Kunstkenners und auch keine Einordnung des Werkes in die traditionellen Kategorien der Kunstgeschichte. Lediglich die eingangs genannten Hinweise auf den Einfluss Magnascos und eine Erwähnung des  jung verstorbenen Vaters des Künstlers, Stefano Magnasco (1635 – 1672), ebenfalls ein Maler, ist (ganz oben auf dem abgebildeten Zettel) zu finden.

Um die Kunst psychologisch auszuwerten, müssen wir uns von ihr anrühren, von ihrem besonderen Material verwandeln lassen. Salber konnte das und er konnte beschreiben, wohin ihn die Verwandlungen durch die Kunst führten. Salber hatte die Fähigkeit, sich den eigentümlichen Wirkungsqualitäten eines Kunstwerkes auszusetzen und für das, was sich dabei einstellte, ‚frische‘ Beschreibungsbegriffe zu finden. Zum Beispiel ein “Flackern”. Die Begriffe der Psychologischen Morphologie engten seine Kunsterfahrung nicht ein. Sie halfen ihm dabei, das Angetan-Sein von dem Material des Werkes zu gliedern und auf eine – auch für für seine Zeit – völlig neue Art zu verstehen.