Linde Salber: Selbstporträt

In guten psychologischen Untersuchungen zu vergangenen Ereignissen finden wir manchmal Ansätze zum besseren Verstehen aktueller Belastungen. Der Text von Linde Salber zum Umgang mit der Beunruhigung anlässlich des Atomreaktorunfalls in Tschernobyl am 26. 4. 1986 ist ein Beispiel dafür.

Die Arbeit wurde ursprünglich in Zwischenschritte 2/1986 veröffentlicht und fand damals ein beachtliches Echo in den Medien. Heute können wir Linde Salbers Untersuchung wieder lesen, um den Umgang mit einer ähnlich  unfassbaren Einwirkung, dem Corona-Virus, ein Stück weit zu verstehen.

 

 

 

 

Linde Salber

Das obskure Objekt der Beunruhigung

Das ‚radioaktive‘ Ereignis
Die Überflutung mit technischen Daten in den letzten Wochen hat die umfassendere Bedeutung des ‚radioaktiven‘ Ereignisses weitgehend aus dem Blick gerückt. Indem wir mit der augenblicklichen Lage fertig zu werden suchen, wird unser Selbstverständnis befrachtet. Erst wenn wir in intensiven Gesprächen aufgreifen, was den Betroffenen zurzeit tatsächlich durch den Sinn geht, zeigt sich die Eigenart der Katastrophe. Das Ereignis wird als Katastrophe des Menschlichen erlebt. Man muss die Information, die Situation sei durch menschliches Versagen entstanden, tiefer verstehen, wenn man zu einer angemessenen Einschätzung gelangen will. Unsere Pilotstudie zeigt, dass eine Aufspaltung in Technik einerseits und Gesundheitsfürsorge andererseits einen gefährlichen Versuch darstellt, unsere Lebenswelt auf Kosten des beunruhigten Seelenlebens im Sinne einer Fortschrittsideologie zurechtzustutzen. Was demgegenüber ansteht, ist nicht ein Rückschritt, sondern eine angemessene Berücksichtigung dessen, was der Mensch verkraften will und kann. Das macht jedenfalls den Kern der seelischen Auseinandersetzung aus.

Nachdem wir uns an die wissenschaftlichen Chiffren des Ereignisses allmählich gewöhnt haben, wird es also Zeit, sich einmal mit seinem seelischen Symbolgehalt zu beschäftigen. Schon nach wenigen Gesprächen wird deutlich, dass in der Rede über eigene Beunruhigung oder scheinbar souveräne Gelassenheit etwas anderes mitläuft. Zwar spricht man über Kernenergie, Atomreaktoren, benutzt auch gelegentlich die Kürzel der Naturwissenschaft, aber im Grunde spricht man am Beispiel der Radioaktivität über etwas viel Allgemeineres. Es geht also nicht darum, nach irgendeinem rationalen Informationsstand zu fragen, auch nicht darum, diesen zu heben, sondern wir fragen, wie der außerwissenschaftliche, normale, alltägliche Umgang mit dem ‚radioaktiven‘ Ereignis aussieht. Was steht in Frage, was in Gefahr, welche Bewältigungsstrategien werden entwickelt? Was ruft das Ereignis wach? Wie deutet man es aus und welchen Stellenwert erhalten in diesem Bemühen die Interpretationsangebote von Wissenschafts- und Politikbetrieb?

Das Kern-Problem
Das auffallendste in den Interviews war zunächst einmal, dass das Ereignis, so unfassbar es auch bleibt, in eine Reihe kleinerer Ereignisse eingeordnet wird, die irgendwie noch zu kapieren waren. Alle möglichen Geschichten über außergewöhnliche Ereignisse werden erzählt. Das reicht von Kriegs Erfahrungen über verborgene Zerstörungssubstanzen in Nahrungsmitteln und Medikamenten bis zum Terrorismus und dem Überraschungsangriff auf Libyen. Gemeinsamer Kern: etwas nicht Kalkulierbares das die gekonnte Lebenssicherung jederzeit unterlaufen kann.

Das Erzählbare
Es finden sich Geschichten mit unterschiedlicher Akzentuierung. Vier Arten lassen sich herausheben: Dem sind wir einfach ausgeliefert, da lässt sich nichts machen; oder: Wir haben schon so viele Katastrophen überlebt, wir werden auch mit diesem neuen Ereignis fertig; oder: Wenn wir nicht begreifen, dass wir die öffentlichen Belange selbst in die Hand nehmen müssen, dann sollten wir uns nicht wundern, wenn es eines Tages richtig knallt; oder: Welch spannende neue Kraftprobe.

Opfersein, beschworene Unverletzlichkeit, aggressive Gegenwehr und zynischer Fatalismus sind Themen differenziert ausgestaltbarer Geschichten. Verschiedene Methoden der Behandlung des Ereignisses sind mit ihnen verbunden.

Opfersein
Das Erleben von Ohnmacht und Ausgeliefertsein führt zu verzweifelten Anklagen: „Man führt uns hinters Licht“; „wie schlimm es wirklich ist, das wird uns sowieso verheimlicht“; „der schleichende Selbstmord unserer Kultur schreitet voran“; „der einfache Mensch, der kleine Mann kann das alles ja nicht verstehen“; „wir müssen es nehmen, wie es kommt, ändern kann man das sowieso nicht“.

Beschworene Unverletzlichkeit
Im Sinne dieser Geschichte heißt es demgegenüber: „das ist eine politische Angelegenheit, die wollen nur den Russen was am Zeuge flicken“; „für die Journalisten ist das das gefundene Fressen, die schlachten das aus und spielen es hoch, die Dramatiker“; „mit Strahlenbelastungen müssen wir doch täglich fertig werden“; „das ist überhaupt nicht gefährlich, ich mach alles wie sonst“; „mich kann das nicht umwerfen, es gibt schlimmere Probleme als den Salat“.

Aggressive Gegenwehr
In der Logik dieser Geschichte liegt auch ein Zug von Selbstanklage, ,,es liegt an uns allen, wir haben nicht rechtzeitig was dagegen getan”; „es liegt an uns, ob es sich wiederholen wird”; .,ich war noch nie so bereit, auf einer Demo mitzumarschieren”; ,,es ist ganz gut, dass das mal passiert ist”; ,,Atomkraft ist Teufelszeug, sie überschreitet die Fähigkeit des Menschen, seine eigenen Erfindungen auch zu beherrschen, also weg damit!’

Zynischer Fatalismus
Hier kommt es zu Geschichtenbildungen, die vom Opfersein ausgehend das Ganze in Ironisierung zu überspielen suchen. Man kommt sich vor wie ein „König-Artus-Comic-Held”, wenn man in seiner Lederrüstung auf dem Motorrad aus einer stark gefährdeten Gegend ,,durch den Strahlennebel” in eine sichere Gegend, ans Meer fährt. Auch die Bemerkungen von der Art „welch eine strahlende Erscheinung“ oder „Sie mit ihrem strahlenden Lächeln“ gehören in diesen Verarbeitungsversuch; alles, was in Richtung Witz geht: „weg mit dem Radio, Fernsehen ist besser, nicht so aktiv“ oder die Zeile aus einer Tagesschau: „Aus deutschen Landen frisch auf den Müll.“

Ungeklärte Verhältnisse
Es sind nicht so sehr die äußeren ungeklärten Verhältnisse der anfangs widersprüchlichen Informationen in den verschiedenen Ländern, die beunruhigen. Die Geschichten leisten nicht, was sie versprechen. Mein packt seine Beunruhigung zwar in eine Geschichte – „aber schwupps, ist es wieder da“, „da bordet etwas über“. Bleibt man in den Gesprächen nicht bei den Geschichten stehen, sondern geht nun stärker auf Erlebensqualitäten ein, die mit den sogenannten Strahlen verbunden sind, brechen Verhältnisse unserer Wirklichkeit auf, die sich nicht einfach klären lassen.

Es bleibt die Unsicherheit, ob es nun wirklich so schlimm ist, dass wir schon alle verseucht sind, oder ob es unsere Gesundheit vielleicht doch nicht beeinträchtigt. Das Verhältnis von ‚Sichtbarem und Unsichtbarem’ beunruhigt: „Ich wünschte nur, man könnte es sehen”; „vielleicht bin ich von innen schon ganz mürbe und merk es nur noch nicht, wie lange hält denn so eine Fassade? Ja, das weiß man eben nicht”; „ich konnte in den letzten Nächten nicht gut schlafen, ob das damit zusammenhängt?” Auch das Verhältnis von ‚Wegschieben oder Auseinandersetzen’ hält in Bewegung, „darüber mag ich gar nicht nachdenken”; „man stelle sich nur einmal vor, welche Kreise das zieht”. Das unklare Verhältnis von ‚wirksamer Substanz und Auflösung der Substanz’ kommt in den Blick: ,,Das lässt sich nicht neutralisieren, lässt sich nicht binden. Das geht vom Himmel in die Erde und kommt mit allem, was wächst, wieder hoch”; ,,im Meer vor San Francisco sollen die Behälter mit Atommüll allmählich durchlässig werden, da gibt es Monsterpflanzen – wie in den schlimmsten Horrorfilmen.“ Das Verhältnis von ‚belastender Substanz und prozesshafter Wirkung‘ macht einen weiteren Punkt aus, der nicht in Ruhe lässt: „Man kann sich gar nicht vorstellen, was daraus noch werden wird.“ Zeitlich wie räumlich geraten ‚Nähe und Ferne‘ durcheinander: „Irgendwo dahinten in Russland soll was passiert sein, hieß es am Anfang und wenig später soll man hier keinen Salat essen.“ Was ‚erlaubt und was verboten‘ ist, lässt sich ebenfalls nicht einschätzen: „Ich beherzige immer das, was ich gerade gehört habe, höre ich eine andere Meinung, die überzeugend vorgetragen wurde, dann tue ich das. So geht das immer hin und her.“

Sinn-Konstruktionen
In diesem Hin und Her kann man sich aber nicht gut aufhalten. So fordern die durch das Ereignis belebten unklaren Verhältnisse zu Sinn-Konstruktionen heraus, die das Beunruhigende in verständlichere Gefüge einzuordnen suchen.

Die Vermeidungs-Konstruktion
Seit Jahren sucht man seine Gesundheit durch bewusste Wahl von Lebensmitteln zu schützen. Beunruhigende Nachrichten über das Mästen von Schweinen, Kühen, Kälbern und die Hühnerhaltung hat zur Bevorzugung von Körnern, Gemüse, Obst und Milchprodukten geführt. Man besorgt seine Nahrung in Bio-Läden und hat das Gefühl, den geheimen Schädigungen zu entkommen. Aber: „Das Feld wird immer kleiner.“ Worauf kann man sich noch zurückziehen, wenn nun auch Salat, Milch, Regenwasser angefüllt sind mit gesundheitsschädigenden Substanzen?

Die Strafgericht-Konstruktion
Manchem kommt der vermessene Prometheus in den Sinn, der mit dem Sonnenwagen der Götter etwas angestellt hat, indem er seine Fackel für die Menschen daran entzündete. Er hat den Zorn der Götter auf sich geladen und wurde gestraft. Es ist auch die Rede von „Apokalypse und Weltgericht“.

Der Mensch ist zu weit gegangen und hat sich schuldig gemacht. „Na endlich“, sagt man, „das musste ja kommen, das war längst überfällig.“ Wenn man so hoch pokert, muss man eines Tages zahlen oder büßen.“ „So denken viele; Rundfunk Fernsehen und SPD-Politiker stürzen sich förmlich darauf.“

Die Hallo-wach-Konstruktion
Ähnlich gebaut ist die Konstruktion des wiederherzustellenden Maßes. „Ein gutes hat das Ganze“, heißt es dann, „vielleicht kommen wir nun endlich zur Besinnung.“ Man hofft auf die Belebung von Maß und Vernunft, die offenbar des Schockes durch das Ereignis bedurft hat. Angst und Krise erhalten einen positiven Akzent, nur sie können die schlafenden Potenzen der Lebenssicherung wieder wachrufen.

Die Pannen-Konstruktion
Hier ist die Rede davon, dass in jedem hoch differenzierten System Fehler vorkommen, „das ist nun mal so”. „Wir können und wollen auf die Annehmlichkeiten durch den technischen Fortschritt nicht verzichten. So ein Ereignis müssen wir in Kauf nehmen. Pannen gehören dazu.“ Wer das Gute haben will, darf sich über die damit verbundenen Probleme nicht aufregen.“

Die Anfälligkeit seelischer Gefüge
Aber man regt sich doch auf. Keine der Sinnkonstruktionen ist so dicht, dass sie die zugrundeliegende Beunruhigung nicht doch durchließe. Sie lässt sich nur mehr oder weniger stillmachen. Bricht man auch an diesem Punkt das Gespräch noch nicht ab, zeigt sich, dass es nicht nur die oben beschriebenen ungeklärten Verhältnisse von ‚Sichtbarem und Unsichtbarem‘, von „Wegschieben und Auseinandersetzen“, von ‚Erhaltung und Auflösung‘, von ‚Substanz und Prozess‘, von ‚Nähe und Feme‘ sind, die verunsichern.

Das obskure Objekt der Beunruhigung macht auf konstitutionelle Widersprüche des Seelischen überhaupt aufmerksam. Man kann natürlich sagen, dass letztlich jedes Ereignis seelische Probleme repräsentiert oder symbolisiert. Aber dieses Ereignis tut das in eklatanter Weise. ,“Wir brauchen immer wieder Katastrophen”, heißt es, „damit wir uns von Zeit zu Zeit den wirklichen Problemen stellen”, die im Routineablauf des Lebens außer Sicht geraten. Das Ereignis rückt uns für Momente aus diesem Ablauf heraus und führt zur Betrachtung dieses Ablaufs. Wie ist er eigentlich beschaffen, fragen wir.

In einer Kultur, die sich arbeitsteilig verhält, haben wir uns sehr daran gewöhnt, dass es ,“für die Regelung einzelner Probleme Experten” gibt. Aber wenn es nun so weit gekommen ist, dass die sogenannten Experten das Ganze hochgehen lassen können, wird der Devise nachdrücklich misstraut. Die Spezialisten, die nur noch den „Fortschritt als Lebensaufgabe sehen”, werden suspekt. Lebens-Aufgabe und Aufgeben des Lebens geraten in eine verdächtige Nähe. Im Vorwurf gegen die Techniker-Spezialisten deutet sich nun unüberhörbar an, was man selbst immer wieder aus dem Blick verliert: die Anfälligkeit aller individuellen und kulturellen Errungenschaften von Lebenssicherung und Lebenssteigerung. Das Ereignis weist uns auf die Instabilität seelischer Gegebenheiten hin, deren Bewältigung sich nicht im Delegationsverfahren erledigen lässt.

Mitten im Alltag ist der Tod
Man meint, über die Experten in Wissenschaft, Medizin und Politik zu sprechen, und bewegt im Grunde doch ein ganz anderes Thema. Entrüstung und Enttäuschung über die anderen sind Ausdruck einer viel wichtigeren Kränkung. Wenn man einmal genau darauf achtet, wie darüber gesprochen wird, spürt man doppelt Gemeintes heraus: “Dass wirklich keiner darauf vorbereitet war!” – “Da hilft dir keiner. Es fällt auf dich zurück.“ ,“Das Allerschlimmste, du musst ganz allein entscheiden, wie du dich jetzt verhältst, du bist vollkommen allein gelassen damit.“ “Auf einmal fällt das Ganze auf dich zurück und du musst selbst Stellung beziehen“; „alle Versuche, es wegzuschieben, nützen eben doch nichts, es spielt rein in den Alltag.“

Das Objekt der Beunruhigung bleibt obskur, es verhüllt sich in Wendungen wie ‚darauf‘, ‚damit‘, ‚das Ganze‘ und ‚es‘. Rein äußerlich gesehen kann die schlichte Frage gemeint sein, ess ich Salat oder nicht, trink ich Milch oder nicht, vermeide ich den Regen oder nicht, vertrau’ ich dieser Aussage oder jener?

Niemand spricht von sich aus über Tod, wohl wird häufig erwähnt, dass man das am Ereignis Gefährliche gar nicht konkret fassen könne. Alle Dinge sehe man seither mit einem gewissen Misstrauen, mit einem Verdacht an, „aber entweichen kannst du dem nicht, du kannst höchstens bei Eindämmungsmaßnahmen mitmachen.” Auch seine Kinder könne man letzten Endes nicht davor schützen, ,,weil man doch im Grunde auch nichts tun kann, man ist doch absolut hilflos. Zwar habe ich manchmal Angst, aber das gehört eben zum Leben.“

In einer anderen Version heißt es, „ein bisschen Bedrohung ist ja ganz schön, da hat man was, womit man fertig werden muss, das belebt sogar”, selbst die sonst oberflächlichen und langweiligen Leute hätten jetzt mal ein Thema, bei dem es um Wichtigeres ginge als um das Wetter. ,“Aber man möchte doch genau wissen, worin die Gefahr liegt.“ Es sei einfach empörend und enttäuschend, dass die ganze Forschung einem nichts sagen könne.

Fassbares und Unfassbares
Zwischendurch einmal habe man so eine merkwürdige Stimmung gehabt, ,,so etwas freundlich Trauriges. Wie nach Moder riechende Wärme oder wie ein Herbsttag, das war wunderbar. Was kann dich jetzt noch beunruhigen, habe ich mir gesagt, das Leben ist ja so – dass es einmal zu Ende geht. Und ich hatte das Gefühl, damit bist du nicht allein. lm Grunde geht das allen so. Etwas komisch-gemeinsam Schicksalhaftes kam auf. Für Momente fühlte ich mich so erleichtert-beglückend-ernst. Ich fühlte mich plötzlich so schwer auf der Erde, das ist ein gutes Gefühl. Solche Gedanken laufen seitdem irgendwie immer mit.“ Das Ereignis weist auf eine Realität jenseits des technisch Machbaren und Fassbaren hin. Zum Alltag gehört mehr als Furcht vor Gefahren und Meisterung der Gefahren. Etwas sonst Latentes, in den Hintergrund Geschobenes kommt durch das Ereignis hervor, und zwar so, dass für Momente eine andere Stellung zum Tod erlebt wird. Wenn wir von Massenkarambolagen hören oder einen schlechten medizinischen Befund zur Kenntnis nehmen müssen, versuchen wir meist, es mit Ursachenforschung wieder ins Begreifliche zu bringen. „Beim Unfall weißt du genau, wie was wodurch beeinträchtigt wurde, kannst es auch sehen. Sicher, das Ergebnis kann dasselbe sein, dann sitz ich verkrüppelt da. Was aber bei den Strahlen so unheimlich ist, du siehst nicht, was geschieht und weißt auch nicht, wann es geschieht.“ Ein Gesprächspartner ließ seine Gedanken von hier aus weiter wandern, ,,was sieht und weiß man schon von dem, was uns bestimmt? Was weiß man von all den verborgenen Wirksamkeiten unserer eigenen Lebensgeschichte, die meine jeweilige Stimmung mit formen?”

Solche Gedanken werden jedoch schnell wieder verlassen. Die Gesprächspartner sind froh, wenn sie das Beunruhigende vergegenständlichen können und machen sich wieder her über die miserable Informationspolitik. Daran können sie herumrücken, das lässt sich wieder fassen, das ließe sich verbessern, darüber kann man sich aufregen – und zwar zu Recht. Gelingt es, das Obskure, d.h. das Dunkle, Verdächtige, Unbekannte von zweifelhafter Herkunft an Salat, Milch und Regenwasser ding-fest zu machen, dann löst sich die eigene Regsamkeit nicht in Endzeitstimmungen auf, sondern kann sich wieder zu Handlungen zuspitzen.

Plötzliche Umkehrungen
Schwer zu verkraften ist das durch das Ereignis wachgerufene Wissen von der Verkehrbarkeit des für sicher Gehaltenen. Was wir für das Gesündeste hielten, bringt uns plötzlich um; was wir für das Schönste hielten, kippt plötzlich in Hässliches; was wir zu beherrschen meinten, beherrscht plötzlich uns; was wie eine Aufgabe aussah, entpuppt sich plötzlich als ein Aufgeben; was Erleichterung bringen sollte, verkehrt sich in Destruktion; das Vertrauteste kann das Tod-Bringende sein. Es geht eigentlich keine Rechnung mehr auf.

„Im Fernsehen zeigten sie eine Kuh auf einer grünen Mai-Wiese. Ein Inbild des Natürlichen. Da hatte ich plötzlich das Gefühl, ich sehe den Schleier wie einen gelben klebrigen Film auf dem Gras – mir hat sich der Magen umgedreht. Du siehst Blumen, eine Wiese, den Frühling, alles in Blüte, das Schönste, was es gibt – und das ist plötzlich das Schrecklichste, wie schnell sowas gehen kann. Man denkt daran, wird daran erinnert, dass schreckliche Dinge passieren können, die nicht beeinflussbar sind.“ Das erinnert an Alpträume, ,,da gab’s kein Hintertürchen mehr”.

Angesichts dieser Erfahrung packt manchen dann die Wut auf die Abwiegler und Vernünftler. „Die stellen einen hin, als wäre man hysterisch.“ Angst zeigen, das scheint nicht zu dem Bild zu passen, das man sich in unserer Kultur von dem Erwachsenen gemalt hat. Aber einmal für Umkehrungen sensibilisiert, dreht man jetzt seinerseits den Spieß um. Die Vernünftler seien die eigentlichen Feiglinge, sie wagen es nicht, die Lage unbeschönigt wahr zu nehmen. ,,Das ist wie was Altes!“ Die Erwachsenen hätten immer so getan, als wüssten sie alles und hätten alles im Griff. „Aber in Wirklichkeit haben sie nur die Augen zugemacht vor den wirklichen Problemen.“

Die Entdeckung von Mittel-Zweck-Umkehrungen führt zur Entdeckung neuer Zusammenhänge. Wenn Lebensverbesserung nur durch Reduktion und Isolierung hergestellt wird, kommt es zu dieser Umkehrung. ,,Immer schnellere Autos, Flugzeuge und Raketen”, ,,immer kleinere Fernsehkameras, immer kleinere Chips”, .,immer kleinere Computer”, „immer effektivere Geräte”, ,,immer leichtere Energie”; das sei ja ganz schön, aber es erinnert an eine Krebszelle, die nur noch den Impuls erhält, ,,bauen, bauen, bauen!” – aber nicht mehr weiß, ,,wie sie das in Abstimmung mit dem Gesamtorganismus hinkriegt”. So werde das vermeintliche Bauen zur Zerstörung. „Man meint immer, die das Sagen haben, kümmerten sich um das Gemeinwohl, aber in Wirklichkeit denken die ganz isoliert und nur für eine Legislaturperiode!“

Fortschritt und Krebs funktionieren im selben Bild. Die durch das Ereignis gesteigerte Krebsgefahr wird plötzlich als etwas entdeckt, das mit seiner Verursachung verwandt ist.

Verdinglichung
Zwar kann man es nicht sehen, hören, riechen, schmecken, anfassen, aber man kann es auch nicht dabei belassen. Das Messen ist ein erster Versuch der Verdinglichung des Ereignisses. Allein, es vermittelt sich nicht mit der erlebten Beunruhigung. Außer den Physikern kann damit kaum ein Mensch etwas anfangen. Ob die es wirklich können, fragt man sich im Übrigen auch. Andere Modellierungen legen sich nahe.

Das Mostrich-Modell
Wie ein klebriger Film, wie ein Aufstrich, der ganz dünn über allem hängt, komme einem das Übel vor. Etwas wolkig Weiches, Klebriges lege sich auf alles. Es sei wie in den Filmen “nach so einem Krieg: Alles war verschlammt, es regnete dauernd, die Individualität des Menschen war aufgehoben, die vegetierten nur noch, greifen so müde nacheinander, lassen sich bald wieder los, nichts Stabiles, keine Bindung zwischen denen, Formauflösung.“ „Wie eine Wolke, wie ein Nebel, so was Warmes, Weiches ist das.“ Irgendwas Pelziges, das ist schwer namhaft zu machen. Es gibt eine Geschichte von dem Ding auf der Schwelle (H .P. Lovecraft), das sich nicht bestimmen und beschreiben ließ, aber unendlich ekelhaft war, sowas Glibberiges, Schleimiges. Der Witz an der Geschichte: darin belebte sich ein Erschlagener wieder, der dann als Schleimknubbel zurückschlug. „Wir haben die Natur erschlagen und kommen jetzt selber darin um.“ „Es ist irgendwas Ausgefranstes, was reinhängt in alles, was man auch nicht sehen möchte am liebsten!“ „Der verfaulende Salat, der dann so matscht, ist auch ein Bild dafür, nur noch Schleim, womit man nicht in Berührung kommen möchte.“ ,“Das setzt sich fest in Tröpfchen und haftet daran.“

Dieses Modell wird offenbar auch von der Bundesregierung favorisiert, wenn sie warnt vor Anfassen, In-den-Mund-Nehmen, Runterschlucken und demgegenüber das Abwaschen empfiehlt.

Das Durchlöcherungs-Modell
Während im Mostrich-Modell etwas eindeutig Ekliges anklingt, kommt im Durchlöcherungs-Modell, da es von Strahlen ausgeht, etwas Ambivalentes auf. Das Leuchtende, der Heiligenschein, ,,Madonna im Strahlenkranz”, die Ausstrahlung mancher Leute gehören auch dazu. „Das sind Strahlen, die von außen durch mich durchgehen, glaub’ nicht, dass ich was schlucke.“ „Wie Blitze, die Bahnen durch die Nacht zeichnen!’ ,,Sowas Spitzes, Blitziges, Piekiges.“ „Die können mich stark machen, aber auch zerstören.“ „Das geht durch beinahe alles durch, auf jeden Fall durch meinen Körper, durch die Knochen, alles.“ „Wo die Strahlen durchgehen, wird das, was da sonst ist, zerstört, z.B. das Knochenmark.“ ,,Das durchlöchert alles, bis es zerfällt.“ „Die Kerne der radioaktiven Teilchen sind nicht stabil, die zerfallen kontinuierlich in kleinere Atome, dabei werden Strahlen frei.“ Nach diesem Bild stellt man sich auch das Zerfallen der Körperzellen vor, ,,die können sich nicht mehr richtig erneuern”.

Es spielt rein in den Alltag
Der Alltag ist als Versuch zu verstehen, sehr vieles, was beunruhigen könnte, immer wieder zusammenzuhalten und in eine Fassung zu bringen. An solchen Ereignissen wie dem ‘radioaktiven’ wird spürbar, dass der Alltag etwas Explosibles ist, und seine Gestaltung unserem Drängen auf Selbstrealisierung, Erhaltung und Mehrung eine Form geben soll. Für ein umfassendes Verständnis dieser Formen gewinnen wir nichts, wenn wir den Alltag aufspalten in eine sogenannte ‘dingliche’ Außenseite, die technischer Bearbeitung anheimfällt und eine sogenannte ‘geistig­ seelische’ Innenseite, die wie ein Gefühlsgespinst auch noch da ist, damit die Psychologen etwas zu tun haben. Wenden wir uns dem faktischen Alltagsleben zu, so finden wir zunächst einmal so ein Zweierlei nicht vor. Das Hervorbringen von Verhaltens- und Erlebensformen ist gleichursprünglich mit dem Hervorbringen einer kompletten Wirklichkeit. Das Seelische existiert nicht neben einer dinglichen Realität, sondern als Weise des Umgangs mit ihr.

Zureichend können wir seelische Gegebenheiten nur erfassen, wenn wir sie als Kultivierungsprozesse rekonstruieren. Indem wir tätig auf unsere Probleme, Neigungen, Wünsche und Ängste bezogen sind, stellen wir den ganzen Alltag immer wieder her, sonst läuft nichts. Dementsprechend geht es – aus psychologischer Perspektive – auch daneben, wenn wir so tun, als gäbe es eine Technik ‘außen’ und ein aufzuklärendes, leicht verwirrbar-dümmliches Seelenleben ‘innen’. Anfälligkeiten der Technik bringen vielmehr Anfälligkeiten des Seelischen in den Blick.
Wo dennoch mit einer Spaltung operiert wird, ist ein Interesse anzunehmen, das den Blick auf die Anfälligkeiten des Seelischen verdecken will, um uns eine Wirklichkeit vorzugaukeln, die wir völlig im Griff hätten. Geht etwas schief – dann sind wir ja versichert (bei Reaktorunfällen mit einer Milliarde), und im Übrigen muss nur die Technik verbessert werden.

Das hat komische Rückwirkungen auf die Auffassung seelischer Gegebenheiten. Wenn etwas über unsere Kräfte geht, dann sind wir nur in Panik geraten, hysterisch oder neurotisch geworden, seelenkrank – und dann muss nicht etwa das Ganze unserer Lebenswelt betrachtet und umgestaltet werden, sondern nur das Seelenleben. Man spaltet die Wirklichkeit auf in eine reparierbare Technik einerseits und ein nach diesem Muster zurechtgeschnittenes, ebenfalls reparierbares Seelenleben andererseits. So wird der Tod zu einem Phänomen heruntergemendelt, das eigentlich nicht in unsere Lebenswelt gehört, sondern Anlass ist für weitere Forschung – wie er zu vermeiden sei. Der Tod verkommt zu einer bloß technischen Panne.