In unregelmäßigen Abständen präsentieren wir an dieser Stelle einen Text aus anders – Zeitschrift für Psychologische Morphologie. Er wird wenige Wochen online sein. Heute ist es die Kolumne von Franklin Schmitt “Wie wandern uns seelisch bewegt” aus anders 10/2012.

Franklin Schmitt
Wie Wandern uns seelisch bewegt

„Wandern ersetzt mir eine Stunde beim Psychotherapeuten!“, meint eine Wanderin. Vorher entnervt und niedergeschlagen, kehrt sie nur wenige Stunden später ausgeglichen und wie von allen Alltagslasten befreit vom Wandern zurück. „Man kommt aus dem Wald als ein anderer heraus als man hineingegangen ist.“, schreibt ein anderer dem Wandern zu. Wandern hilft, die kleinen Probleme des Alltags zurechtzurücken, aber auch Lebenskrisen zu bewältigen. Die Welt ein Stück weit besser verstehen und Probleme durchdenken kann beim Wandern besser als anderswo gelingen. Auf Wanderungen tanken wir neue Kraft für berufliche und private Lasten. Die Aussagen zeigen, dass Wandern uns verändert, nur wie kommt diese Wirkung zustande?

Für die Morphologie geht die Beschreibung von seelischen Verfassungen in Erklärungen über. Im Folgenden soll daher in knappen Zügen die spezifische Verfassung des Wanderns beschrieben und auf diese Weise die genannten Wirkungen verständlich gemacht werden. Welche seelische Verfassung bildet sich beim Wandern aus? Was unterscheidet es von anderen Freizeitaktivitäten und wo geht es in andere Formen des Freizeitsports über?

Beim Wandern ist unser Leben überschaubarer als im ansonsten an Angeboten und Aktivitäten überbordenden All- tag: Proviant, Kleidung, Ausrüstung, Routen und Laufzeiten sind begrenzt. Wir vertrauen auf eine „feste“ Ausrüstung und probieren wenig Neues aus. Was mitgenommen wird und was nicht, überlegen wir nicht jedes Mal aufs Neue. So sind Gepäck und Proviant stets gleich: typisch sind Mineralwasser, Obst, Brot und ein T-Shirt zum Wechseln. Die geplante Route wollen wir in der Regel einhalten und nicht verlassen.

Das Wandern unterscheidet sich von anderen Fortbewegungen in der Freizeit. Ein Spaziergang verläuft leicht und glatt, wohingegen eine Wanderung durch Widrigkeiten wie holprige Wege, Steigungen und versteckt liegende Strecken mühsamer ist. Vom Wandern versprechen wir uns neue Ein- drücke, von einem Spaziergang nicht unbedingt: so gehen wir sonntags denselben Rundweg um den See. Zum Wandern rüsten wir uns aus, für einen Spaziergang nicht. Wandern endet dort, wo das Streben nach Höchstleistung das Naturerlebnis in den Hintergrund drängt. „Blind“ durch den Wald laufen, um eine Strecke in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, wird als Sport und nicht als Wandern empfunden. Steht in den Bergen der Schwierigkeitsgrad der Passage im Vordergrund, wie bei heiklen Klettersteigen, geht das Wandern in das Klettern über. Beim Wandern in den Bergen geht es meist mit dem Lift hinauf, einen Panoramaweg entlang von Hütte zu Hütte und insgesamt mehr abwärts als hinauf.

Nachdem wir das Wandern eingegrenzt haben, wollen wir seine Verfassung beschreibend zergliedern. Wandern lässt Drehpunkte des Lebens in kurzen Zeitspannen erfahren. Es zeigt, dass unser Leben nicht gleichmäßig und nur in eine Richtung verläuft. Morgens fühlen wir uns schlapp und müssen in die Gänge kommen. Nach den ersten Kilometern haben wir unseren Rhythmus gefunden, fühlen uns stark und könnten ewig weiterlaufen. Doch irgendwann werden unsere Knochen müde und jetzt gilt es, auf die Zähne zu beißen und durchzuhalten. Typisch ist das anschließende Zwischenhoch, was aber nicht von Dauer ist. Endlich am Ziel angekommen, fühlen wir uns von allen Lasten befreit.

Die Verfassung des Wanderns ist ein Werk zwischen Planen und Probieren. Wanderungen werden meist sorgfältig vorbereitet, wir erkundigen uns nach der Strecke, dem Zeit- bedarf und dem Wetter. Karte und Kompass unterstützen bei der Orientierung. Wanderzeichen helfen, auf dem Weg zu bleiben. Beim Wandern verbleiben wir jedoch nicht nur auf der sicheren Seite, ebenso vermittelt es die Freude am Unbekannten: Überraschungen, Abwechslungen am Wegesrand und neue Aussichten gehören dazu und beleben es. Einlassen auf Dinge, die „einem zufällig über den Weg laufen“, sind die Entdeckerfreuden des Wanderns. Wir erobern unbekanntes Terrain, gehen verschlungenen Pfaden nach und genießen neue Ausblicke. Schnurgerade verlaufende Wirtschaftswege mit Fichtenwald links und rechts empfinden wir als langweilig. Die ideale Wanderstrecke bietet, abhängig von den individuellen Fähigkeiten, das richtige Maß an Orientierung sowie zugleich Freiraum für Entdeckungen.

So schält sich bei der Beschreibung heraus, dass es sich beim Wandern um eine Dramatisierung des Lebens handelt. Sie zeigt Analogien zu der frühen menschlichen Daseinsform als „Sammler und Jäger“. Im Wandern erfahren wir den Überlebenskampf als Gleichnis. Weitere Züge dieser Verfassung sind dazu geeignet, diesen Zwischenbefund zu bestätigen.

Pläne schmieden allein reicht beim Wandern nicht aus, nur entschiedenes Handeln bringt das Ganze in Bewegung. Denn Wandern fordert mitunter riskante Entscheidungen heraus. Zaudern bei Problemen hilft nicht weiter. Wer sich verlaufen hat und nicht weiß, welcher Weg einzuschlagen ist, muss sich letztendlich doch für eine Richtung entscheiden. Sonst kommt er aus dem Wald nicht mehr heraus. Eine Dramatik des Durchhaltens bis zum Ziel, selbst in schwierigen Abschnitten, ist typisch für das Wandern.

So lässt uns das Wandern das Verhältnis von Chance und Begrenzung erfahren: Eine Überforderung der eigenen Kräfte, ja selbst Lebensgefahr, wirken im Hintergrund oft mit. Denn das Hineingeraten in Katastrophen, meist Beinahe- Katastrophen, ist ein seltenes, aber typisches Wandererlebnis. Sich zu verirren, in ein Gewitter oder einen heftigen Schneesturm zu geraten, irgendwie doch noch heil nach Hause zu gelangen, zeigt, wie wenig wir unser Leben unter Kontrolle haben. Von Wanderung zu Wanderung vergrößern wir unseren Radius und schaffen zunehmend längere und anspruchsvollere Strecken. Wandern zeigt uns aber auch, dass es kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten gibt. Wir spüren die Begrenzungen am eigenen Leib, wenn wir eine Strecke unterschätzt haben. So entwickelt Wandern unsere Selbsteinschätzung sowohl in Richtung auf unsere Möglichkeiten als auch unsere Grenzen. Nach einer Tour können wir positiv überrascht sein, diese geschafft zu haben, obwohl wir sie uns im Vorfeld nicht zugetraut hatten.

Zurück zur Ausgangsfrage, wie die positive Wirkung des Wanderns zustande kommt. Das Fazit liegt vor uns. Wandern formt eine Verfassung aus, die auf unser Bedürfnis nach Planung und Sicherheit ebenso eingeht wie auf unsere Sehn- sucht nach Neuem und nach Abenteuer. Es lässt uns Grenzen ebenso wie Möglichkeiten auskosten. Wandern wirkt als Gleichnis, weil es die Anforderungen und Widersprüchlichkeiten unseres Lebens umfassend spürbar macht und es uns ermöglicht, diese in einem zeitlich überschaubaren Kreis zu erleben. Wer sich auf Wanderschaft begibt, lässt sich auf grundlegende Verhältnisse und Risiken des Lebens ein. Die Strecke, die er dabei psychisch durchläuft, lässt ihn am Ziel das Leben anders betrachten.