Für Wilhelm Salber war der Alltag "der Größte". Auf der Grundlage von mehr als 1.500 Tiefeninterviews machte er sich daran, das Alltagsleben - so wie wir es vorfinden - zu erforschen. Seine Einschätzung:"Der Alltag des Seelischen ist seltsam, komisch, grotesk, paradox, unheimlich... eine ungeheure Maschinerie, die sich zwischen 'gemeinem' Material und kunstvollen Gestaltungen ausspannt."
Auf der Grundlage von Salbers 1989 erschienen Buches "Der Alltag ist nicht grau" und vieler anderer seiner Untersuchungen werden wir auf dieser Website in lockeren Abständen Alltagsformen darstellen. Wir beginnen mit dem morgendlichen Aufwachen.
“Good morning, good morning, good” (The Beatles)
Ist das morgendliche Aufwachen ein sinnfreier Dämmerzustand? Etwas, was nur mit der Physiologie des Schlafens und Wachens zu tun hat? Die Psychologische Morphologie ist anderer Auffassung. Sie versteht das Aufwachen als einen kleinen “Weltuntergang” und eine kleine “Weltschöpfung”.
In den Minuten des Aufwachsen lassen wir eine kaum fassbare Welt bewegender Bilder zurück. Zugleich erhalten wir einen Vorgeschmack davon, was der Tag mit sich bringt und was in ihm alles untergebracht werden muss. Im Auftauchen und Verklingen, Erweitern und Verengen, Fassbarwerden und Verschwimmen erfährt sich das Seelenleben als eine Produktion im Werden. Kaum lässt sich etwas halten, es ist im Übergang. Die Nähe zu der Strömung des nächtlichen Seelenlebens ist spürbar. Aber es gibt auch Unterschiede. Denn jetzt können wir eingreifen, Akzente setzen und vorschmecken, ob wir die Aufgaben dieses Tages werden angehen können.
Die Vorgriffe können ins Paradiesische gehen. Oder aus ihnen entstehen Visionen des Scheiterns. Demgegenüber zeigen sich Bestrebungen, Orientierung zu finden, Maßstäbe abzutasten. Dieses könnte gelingen, jenes erscheint zu viel. Irgendwie möchte man diesen Übergangszustand bewahren. Zugleich aber wehrt man sich auch dagegen. Mal spinnt man die dramatischen Bilder des Traumes weiter. Mal gibt man sich einem neuen Drama hin: Noch einmal sich zurückfallen lassen in die Süße des Schlafes oder endlich Aufstehen und es mit den Aufgaben des Tages aufnehmen? Alles drängt auf einen Ruck, der das Schweben beendet.
So oder so ähnlich gewinnt die unruhige, seelische Produktion beim Aufwachen allmählich Kontur. Die Unterscheidung in ein Draußen und Drinnen, ein Eigen und Fremd, aber auch Uhr und Raum bieten Anhaltspunkte. Anstehende Aufgaben, der Druck im Körper rufen nach einer Ausgliederung, die Form und Richtung in das Gleiten bringt. Mit dem Aufstehen geht das Aufwachen zu Ende. Nun findet es Halt in den Dingen der Wohnung, in den gewohnten Wegen und Ritualen. Der Beginn des Tages ist vollbracht.
Text nach W. Salber (1987): Der Alltag ist nicht grau (S. 34 f.)