Porträt des WSG-Vorstandsmitglieds Dipl.-Psych. Carl Vierboom aus Hennef

 

Carl Vierboom stammt vom unteren Niederrhein, dem „Grenzland“ zwischen Deutschland und den Niederlanden. Nach dem Abitur studierte er an der Universität Köln Psychologie und Sozialwissenschaften. Schon während des Studiums ergab sich durch verschiedene Jobs und Praktika, auch durch Mitarbeit und eigenständig durchgeführte Projekte in der Markt- und Meinungsforschung eine Nähe zu Wirtschaft und Unternehmen – zur angewandten Psychologie. Das Gegenstück dazu waren Themen und theoretische Diskussionen im Umfeld der Morphologischen Psychologie, verbunden mit Beiträgen für die Zeitschrift „Zwischenschritte“. Nach dem Diplom in Psychologie arbeitete er zunächst als Wiss. Mitarbeiter auf einer Jahresstelle bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (Bergisch Gladbach) in der Forschungsplanung und Unfallforschung. 1986 begann er unter dem Namen Transform GbR in Köln eine Zusammenarbeit mit Dr. W. Wagner und J. Schlösser mit Auftrags- und Begleitforschung in den Bereichen Gesundheit, Verkehrswesen und Marketing. Einige Jahre später wechselte er von der Forschung und Analyse in die Beratung und Umsetzung und wurde Projektberater bei der EVOLOG Beratungsgesellschaft für Personal und Unternehmensführung (Köln). Seit 1995 ist er als selbständiger Wirtschaftspsychologe tätig, mit Projekten im Übergang zwischen Markt- und Wirkungsforschung einerseits, Beratung und Organisationsentwicklung andererseits. Er verfügt insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft/Ernährung, Mobilität/Verkehrspsychologie und Gesundheitssystem über langjährige Erfahrungen.

Carl Vierboom ist verheiratet und lebt seit 1992 mit seiner Familie in Hennef an der Sieg. Er reist und wandert gerne mit seiner Frau, mit Familie und Freunden. Bücher, Filme und Musik sind für ihn unverzichtbare Lebensmittel. Mit einigem Spaß kümmert er sich auch um Haus, Garten und Reparaturen. Und noch etwas ist ihm wichtig: der 1. FC Köln. „An der Liebe zu diesem Verein kann man regelmäßig das Leiden üben.“

Herr Vierboom, was wünschen Sie sich für die Zukunft der WSG?
Mehrere Dinge. Erstens das Praktische: mehr Mitglieder, z.B. auch aus dem Kultur- oder Wirtschaftsbereich und aus bestimmten Denkrichtungen, etwa der Soziologie, der Ethnologie oder den Politikwissenschaften. Ruhig auch höhere Einnahmen und höhere Ausgabemöglichkeiten für Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Zweitens, dass die WSG weiter damit voranschreitet, verschiedenartige Ansätze, Formate und Lockerungsübungen auszuprobieren und herauszufinden, was ihr am besten bekommt. Noch ein Wunsch für die WSG: dass sie sich darüber unterhält, welchem Bild sie folgt. Es braucht ein Bild. Auch die WSG ist von dieser Welt.

Welches Gebiet oder Phänomen des menschlichen Lebens sollte morphologisch untersucht werden?
Hierzu möchte ich zwei Dinge nennen. Nach meinem Eindruck wird es Zeit, sich mehr damit zu beschäftigen, wie riesige, staatlich-politische und wirtschaftliche Einheiten mit ihren Dynamiken und Krisen sich auf unser Leben auswirken. Man vergegenwärtige sich, wie „Corona“ (niemand weiß im Moment genau, was das meint und wer alles davon einen Nutzen hat) die kleinen Einheiten des Alltages bröselt und gleichsam ihre Genetik neu zusammensetzt. Wenn ich es recht verstehe, dann rückt die Psychoanalyse anthropologisch das Generationenverhältnis als Voraussetzung für Kultur heraus. Die Morphologie dagegen verfolgt einen anderen Zugang: dass es Seelisches nur im Alltag gibt – der Alltag und seine Verhältnisse also als anthropologische Voraussetzung für Kultur und Entwicklung. Im Grunde bringt sich die Morphologie damit in Stellung. Das ist ihre Leistung und ihr Vergnügen, bringt jedoch auch die Sorge um den Alltag mit sich. Vielleicht ist es Zeit, die Gegenstandsbildung „Wirkungseinheit“ neu zu bestimmen und von da aus neu auf die Handlungseinheiten des Alltags zu schauen.

Mir persönlich wäre es das Liebste, viel mehr Zeit für Musik zu haben; Musik zu spielen und zu hören. Es wäre schön, wenn sich in Zukunft Morphologen kontinuierlich und institutionell mit dem Erleben von Musik beschäftigen würden. Den Zustand der Psychologie kann man meiner Ansicht nach unter anderem daran ermessen, ob es klassische Lehrstühle für Musikpsychologie gibt. Also: in Zukunft sollte eine Morphologin oder ein Morphologe einen solchen Lehrstuhl entwickeln und einnehmen.

Über welche Berührungspunkte haben Sie die psychologische Morphologie kennengelernt?
Als ich aus der Provinz zum Studium nach Köln gekommen bin, da habe ich erst einmal alles Mögliche gemacht, auch ein paar Scheine gesammelt, aber nur formal studiert. Meine allererste Adresse in Köln war der Jazz-Club „Subway“ auf der Aachener Straße; den hatte ich schon seit Jahren auf dem Zettel, aus samstäglichen Jazz-Sendungen auf WDR3, gehört auf einem kleinen Transistorradio mit schlechter Antenne. Salber und die Morphologie habe ich erst nach ein paar Semestern wirklich zu kapieren angefangen. Eigentlich kam das so, weil alle zum Salber gingen. Es muss ja nicht immer schlecht ausgehen, hier und da einmal dem Herdentrieb zu folgen. Das Interessante und Anstrengende war dann aber, dass es nicht mit dem Herdenmodell weiterging, sondern viele Momente der Anziehung und der Abstoßung folgten. An so etwas muss man erst einmal den Geschmack finden. Wo ich das hier gerade beschreibe, fällt mir ein, dass ich bei Gelegenheit das Bild von morphologischen Stachelschweinen vor Augen habe. Auch die sehnen sich wie die meisten Lebewesen nach Bindung, Zusammenschluss und Größer-werden. Im nächsten Moment aber versagen sie sich zu viel Gefühl, werden wieder methodisch und nehmen Distanz zueinander auf. Manchmal können sie biestig miteinander werden. Soviel zum Thema „Berührungspunkte“.

Welches psychologische Buch nehmen Sie immer mal wieder zur Hand?
Natürlich gehören dazu Schriften von Wilhelm Salber: die „Wirkungseinheiten“, die „Seelenrevolution“ und das Alltags-Buch. Für mich wichtig ist auch das Buch von Friedrich Heubach über das bedingte Leben – eine Art Ergänzung, wenn mir das Reden über die Verwandlung zu viel wird. Ein ganz tolles, materialreiches Buch von Georges Devereux möchte ich hier nennen: „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“. Devereux lohnt sich aktuell für alle, die als Psychologen angesichts von Corona über Forschungs- und Behandlungssettings nachdenken wollen. Mit dabei haben könnte man immer die „Psychologie für die Westentasche“ von Linde Salber. Noch ein Tipp: das Buch „Gekaufte Zeit“ von dem Soziologen Wolfgang Streeck, über die Malaise, in der wir mit unserem System stecken. Wer Bücher liebt, der weiß, wie weh es tut, an solcher Stelle nicht noch weitere Autoren und Bücher nennen zu können oder andere genannt zu bekommen.

Welches Land würden sie einmal gerne bereisen?
Argentinien. Eigentlich weiß ich so gut wie gar nichts über das Land. Aber irgendwie hat sich bei mir festgesetzt, dass Argentinien das Land ist, in dem man Lateinamerika und europäische Einflüsse oder einen Mix aus Bürgerlichkeit und Mythologie zugleich erleben kann; in dem es tolle Landschaften gibt, den Tango und ganz viele Möglichkeiten, auf das Meer zu blicken. Also: Argentinien.

Gestalt und Verwandlung ist das zentrale Urphänomen der psychologischen Morphologie: in wen oder was würden sie sich gerne für einen Tag verwandeln?
Da komme ich wieder auf die Musik zurück und bräuchte dafür eine Zeitmaschine. Ich wäre gern bei einem der Konzerte dabei gewesen, in denen Charlie Parker, Horace Silver, Miles Davis, Django Reinhardt oder Cannonball Adderley in den 40er bis 60er Jahren den Jazz weiterentwickelt haben. Einfach dabei sein, als Zuhörer, meinetwegen auch als Kellner, um frühmorgens zuhause, todmüde und aufgedreht auf dem Piano ein paar Noten dilettantisch nachzuspielen – „close enough for jazz“.

Herr Vierboom, wir bedanken uns für Ihre Antworten.