Beiträge zur Corona-Krise

 

Morphologie ist keine statische Theorie. Sie ist eine Methode, die menschliche Wirklichkeit zu betrachten, zu untersuchen und zu behandeln.

Morphologen sind tätig in der Hochschullehre, in Weiterbildungsinstituten, in international operierenden Marktforschungsinstituten und Unternehmensberatungen. Sie arbeiten in der Kulturforschung, in Psychoanalyse und Psychotherapie, als Regierungsberater, Autoren und Künstler. Der Corona-Blog veröffentlicht Beiträge von Psychologen, die – in der Regel mit morphologischem Blick – das wohl gewaltigste soziale Phänomen seit dem Zweiten Weltkrieg beobachten:

Die Schule in den Zeiten von Corona – Ein Lagebericht zum neuen Gesicht des Alltags

Ein Beitrag von Michael Ley und Carl Vierboom, IQ BILDUNG, Köln (1) Zur Begründung der Maßnahmen, die zur Eindämmung der Corona-Krise ergriffen werden, bemühen sich die Verantwortlichen um eine möglichst sachliche Argumentation. Zahlen und Tabellen, die das Infektionsgeschehen abbilden, spielen eine ebenso große Rolle wie Informationen über medizinische Aspekte einer Viruserkrankung und die dabei zu berücksichtigenden Übertragungswege. Viele Politiker treten in der Krise nur noch in Begleitung wissenschaftlicher Experten auf, weil sie ihren Entscheidungen zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen wollen. Es lässt sich allerdings nicht übersehen, dass die entsprechenden Verlautbarungen in eine mediale Kampagne eingebettet sind, die ihresgleichen sucht. In den Medien nimmt die Berichterstattung über das Virus seit Monaten die erste Stelle ein. In öffentlichen Verkehrsmitteln wird über Lautsprecherdurchsagen auf die Gefahren des Virus aufmerksam gemacht und in Geschäften oder Kaufhäusern findet sich an jeder Ecke ein Plakat, das auf die Möglichkeit einer Ansteckung hinweist. Wo früher bunte Werbeplakate hingen, da finden sich heute in Signalfarben ausgemalte Hinweise zum richtigen Umgang mit der Maske, zu den drei wichtigsten Corona-Geboten oder den neusten Ausgangsbeschränkungenin der Region. Sieht man einmal von Kriegszuständen ab, dann gibt es wohl kein Ereignis, das in der Vergangenheit mit ähnlicher Intensität und über einen ähnlich langen Zeitraum mit medialer Aufmerksamkeit bedacht wurde. Obwohl das Virus so klein ist, dass man es ohne aufwendige technische Zurichtungen nicht sichtbar machen kann, hat es innerhalb kurzer Zeit gleichsam weltumspannende Öffentlichkeit erlangt. Selbst diejenigen, die nicht an eine Pandemie glauben wollen, können sich seinem Einfluss nicht entziehen. Corona ist allgegenwärtig und so umfassend, dass sich jeder seinem Einfluss unterwerfen muss. (2) Es bleibt jedoch nicht bei der medialen Flut aus Nachrichten und Informationen. Die Angst vor dem Virus ist inzwischen auch in den Alltag der Menschen eingedrungen und hat sich dort in sämtliche Handlungsformen eingenistet, die bis vor Kurzem noch wie selbstverständlich und ohne besondere Vorsichtmaßnahmen bewerkstelligt wurden. Das Virus ist allgegenwärtig beim Einkaufen und beim Bahnfahren, beim Essen und beim Trinken, beim Fußball, bei Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen. Für viele Menschen beginnt der Tag mit Nachrichten über Corona und das letzte Wort vor dem Einschlafen lautet ebenfalls: ,,Corona”. Corona ist zu einem unsichtbaren und zugleich unheimlichen Begleiter unseres Alltags geworden. Dieser Begleiter ist im Hintergrund unserer täglichen Handlungssysteme beständig präsent und droht mit dem Abbruch dieser Handlungen, wenn dafür nicht bestimmte Opfer gebracht werden: Einschränkungen des Kontakts, Einhalten von Abständen, Berücksichtigung von Hygienemaßnahmen. Ohne Zeremonien des Händewaschens, ohne dauernde Kontrollen, Überprüfungen und Checklisten für angemessenes Verhalten ist kein sozialer Kontakt mehr möglich. Man kann daher nicht behaupten, die Corona-Maßnahmen wären lediglich eine Zutat zu den Handlungen, die wir auch sonst ausführen und die in ihrem Kern gleich geblieben sind. Corona macht etwas mit den Menschen, und zwar unabhängig davon, ob sie infiziert sind oder nicht. Die Menschen selbst sind anders geworden, ihre sozialen Beziehungen haben sich verändert, ihr Blick auf die Welt ist durch Corona gleichsam neu „formatiert” worden. (3) Auf den ersten Blick ist die Schule eine Organisation, die ebenso wie andere Betriebe lediglich dafür sorgen muss, dass die vorgeschriebenen Regeln zur Eindämmung der Infektionsgefahr erfüllt werden. Auch Schulen müssen Hygieneregeln einführen, auch in Schulen müssen die Menschen auf Abstand gehen, auch in Schulen erinnern Plakate und Aufkleber daran, dass wir unseren Alltag an eine außergewöhnliche Situation anpassen müssen. Trotzdem ist in der Schule vieles anders als in anderen Institutionen. In der Schule geht es zum einen um Kinder, die nicht so einfach wie Erwachsene mit rationalen Argumenten für die Einhaltung der Maßnahmen gewonnen werden können. Zum anderen ist die Schule aber auch eine Institution, die für den Zusammenhalt und das Funktionieren einer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt. Die Schule verwaltet das Verhältnis der Generationen. Sie reproduziert die Weltanschauungen, die Überzeugungen und Werte, die für eine Gesellschaft jeweils bedeutsam sind. Wir können daher annehmen, dass sich die impliziten Werte und Überzeugungen, die der Bewältigung der Corona-Krise zugrunde liegen, am Beispiel der Schule besonders deutlich herausarbeiten lassen. Im Kontext der Schule lässt sich zeigen, wie umfassend diese Maßnahmen sind, wie weit sie in die Verhaltensmuster der Menschen eindringen, wie sehr sie zu Umstellungen innerhalb der Institutionen selbst führen. Darüber hinaus kann man am Beispiel der Schule aber auch erkennen, wie sehr diese Maßnahmen von den Bildern der Medizin bestimmt werden. Corona hat nicht lediglich administrative Maßnahmen zur Folge, mit denen ein Katastrophenfall verwaltet wird. Corona ist vielmehr Anlass für eine Politik, die auf den Körper der Menschen zielt. Unter dem Label von Corona ereignet sich „Biopolitik” (Foucault), die auf ein neues Bild der Gesellschaft zuläuft und dazu den Körper der Menschen neu zu definieren und in Besitz zu nehmen versucht. (4) Wenn es um die Schule geht, dann wird oft behauptet, dass sie die Maßnahmen zur Abwehr von Infektionsgefahren nur mangelhaft und unvollständig erfüllt. Es werden die widersprüchlichen Vorschriften und Regelungen kritisiert, das Planungschaos, die ungenügende Ausstattung mit technischem Equipment. Die Schule scheint auch im Fall von Corona den Vorwurf einer ewig „gestrigen” Organisation zu erfüllen. Bei näherer Betrachtung kann man aber feststellen, dass die Schule wie keine andere Organisation in der Lage war, die vorgeschriebenen Auflagen zu erfüllen. Es gibt kaum eine Institution, die innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums so umfassende Maßnahmen für so viele Menschen durchgesetzt hat. Wenn man bedenkt, dass es in Deutschland ungefähr zehn Millionen Schülerinnen und Schüler und fast eine Million Lehrkräfte gibt, dann müssen die bisher erzielten Ergebnisse eigentlich erstaunen. Es scheint auch kaum eine Institution zu geben, in der die Regelungen so konsequent umgesetzt wurden wie in der Schule. Mit Ausnahme vielleicht von Krankenhäusern wird man kaum einen Betrieb oder ein Unternehmen finden, in dem hunderte Menschen für einen Zeitraum von mindestes sechs Stunden nahezu ohne Unterbrechung eine Gesichtsmaske tragen müssen, in dem Abweichungen von den geltenden Regeln so rigoros geahndet werden, in dem an diese Regeln so häufig erinnert wird wie in der Schule. Jeder, der in diesen Tagen eine Schule besucht, wird sich auch davon überzeugen können, dass es in kaum einer anderen Organisation so viele Plakate und Parolen gibt, in denen der Gebrauch der Masken erläutert wird, die Hygieneregeln dargestellt werden oder an die Verantwortung für Mitmenschen in und außerhalb der Schule appelliert wird. Während in anderen Organisationen immer noch Freiräume existieren, in denen Corona nicht unbedingt das Hauptthema ist, wird das „Corona-Regime” (J. Spahn) in der Schule nahezu lückenlos durchexerziert. Wenn die Kinder nicht von einem Lehrer oder einer Lehrerin ermahnt werden, dann ist es mit Sicherheit ein Plakat, das von der Wand Anweisungen zum korrekten Verhalten erteilt. Man könnte auf den Gedanken kommen, in der Schule würden die Plakate und Parolen, die vor Corona warnen, eine ähnliche Funktion erfüllen, wie in früheren Zeiten das Kreuz der christlichen Kirchen oder die Fotos des Bundespräsidenten. Corona ist an die Stelle der umfassenden gesellschaftlichen Systeme getreten, die in der Vergangenheit durch die Kirche oder den Staat repräsentiert wurden und in die auch die Schulen sich wie selbstverständlich eingefügt haben. Mit dem Virus wird die Präsenz einer medizinischen Wirklichkeit beschworen, die wie eine unsichtbare Macht im Hintergrund beständig wirksam ist. (5) Auch in der Schule stellen die vielen Corona-Regeln nicht lediglich eine Kleinigkeit dar. Die von staatlicher Seite verordneten Auflagen umfassen vielmehr erhebliche Eingriffe in das Verhalten der Menschen. Sie greifen am strukturellen Kern unserer alltäglichen Handlungssysteme an und verändern das Verhalten der Menschen, ihre Kommunikation und die Art und Weise ihres Zusammenlebens. Es ist der ganze Rahmen unserer Alltagswerke, der durch Corona auf den Kopf gestellt wird. Dazu gehört zunächst eine massive Einschränkung von Bewegungsmöglichkeiten. Seitdem die Angst vor Corona auch in der Schule anwesend ist, dürfen sich Schüler nicht mehr am Kopf kratzen oder an die Nase fassen. Sie dürfen die Schule nur noch durch vorgeschriebene Eingänge betreten und durch festgelegte Ausgänge wieder verlassen. Sie dürfen anderen Schülern oder Lehrkräften nicht zu nahe kommen, sich nicht zur Begrüßung umarmen oder sich gegenseitig die Hand schütteln. Bei Spiel und Sport müssen sie auf körperlichen Einsatz oder Rangeleien verzichten. Auch der Umgang mit Dingen oder Material ist eingeschränkt. Tischplatten oder Türklinken gelten als potentielle Infektionsrisiken. Sie werden regelmäßig gesäubert oder mit der Vorschrift versehen, sie nur noch mit dem Ellbogen zu berühren. Radiergummis, Kugelschreiber oder Schulhefte dürfen nicht mit Mitschülern ausgetauscht werden und selbstverständlich dürfen auch Trinkflaschen, Brote oder Obststücke nicht mit anderen geteilt werden. Bücher, Hefte, Taschen und Taschenrechner werden markiert und dürfen ausschließlich von derjenigen Person benutzt werden, die sie im Besitz hat. Die vielen Vorschriften führen dazu, dass die Spontaneität der kindlichen Ausdrucksbewegungen gestoppt wird. Kinder, die früher auf dem Schulhof herumgetollt sind, halten jetzt mitten in der Bewegung inne, brechen die gerade angelaufenen Handlungen ab und blicken ratlos oder hilfesuchend um sich. Sie unterbrechen die spontane Annäherung an Dinge oder Menschen und vermeiden in vielen Fällen überhaupt jede Form des Kontaktes. Es gibt Lehrkräfte, die sich darüber wundern, wie viele Schüler inzwischen einsam in den Pausen herumstehen. Rückzugstendenzen, Lustlosigkeit und Langeweile sind unerwünschte, aber immer weiter um sich greifende Begleiterscheinungen der Corona-Schule. Die Allgegenwart von Vorschriften und Ermahnungen produziert zugleich ein hohes Maß an Unsicherheit. Die jungen Menschen werden gezwungen, ihr normales Verhalten auf Schritt und Tritt zu prüfen und zu kontrollieren: Ist die Maske richtig aufgesetzt? Hast du die Hände gewaschen? Wohin darfst du dich setzen oder stellen? Wen darfst du ansprechen? In ihrer Detailgenauigkeit und Strenge erinnern die Corona-Regeln an die Vorschriften, die beim Auswendiglernen des Katechismus oder bei der Befolgung des Beichtspiegels beachtet werden mussten. Schon kleine Kinder werden in ein Korsett von Anleitungen, Geboten und Verboten gesperrt, deren Sinn sie in vielen Fällen überhaupt nicht verstehen können. Sehr auffällig ist auch die Lückenlosigkeit, mit der die Regeln in der Corona-Schule durchgesetzt werden. Die Vorschriften gelten ohne Ausnahme, an jedem Ort und für alle Personen, die sich im Schulgebäude aufhalten. Wer sich nicht daran hält, wird ermahnt, zur Rede gestellt oder notfalls auch vor der gesamten Klasse lächerlich gemacht. Wir kennen Fälle, in denen fast erwachsene Oberstufenschüler, die die Maske falsch aufgesetzt haben, zur Bestrafung in eine Ecke des Klassenraums gestellt werden. Eine scheinbar mildere Form der Bestrafung besteht darin, dass denjenigen, die die Maske nicht ordnungsgemäß verwenden, ein Sprech- und Redeverbot erteilt wird. (6) Das alles erzeugt eine Atmosphäre, die an die Erlebensformen eines Krankenhausaufenthaltes erinnert. Ähnlich wie im Krankenhaus werden auch in der Corona­ Schule Bewegungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt. Ebenso wie im Krankenhaus scheint auch in der Corona-Schule das Ziel darin zu bestehen, die Schülerinnen und Schüler möglichst an einem bestimmten Platz festzusetzen und den Kontakt mit anderen Menschen und Dingen zu verhindern. Die Corona-Schule versucht eine Situation herzustellen, die durch ein Minimum an Ausdrucks- und Bewegungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. So wie man bei kranken Kindern sehr häufig beobachten kann, dass sie diese Situation entweder mit Rückzug oder Aggression beantworten (A. Freud), so kann man in der Corona­ Schule feststellen, dass Formen von Langeweile , aber auch Unruhe und Tendenzen zum „Ausflippen” zunehmen. Lehrkräfte beklagen sich über mangelnde Konzentrationsfähigkeit der Schüler, über Reizbarkeit und einen um sich greifenden Gebrauch von Sehimpfworten. Manchmal wird behauptet, solche Schwierigkeiten würden durch die Situation in den Familien verursacht , die in der Corona-Krise ebenfalls enormen Belastungen ausgesetzt sind. Aus unserer Sicht schafft sich die Schule ihre Probleme aber weitgehend selbst. Die Disziplinschwierigkeiten, die von den Lehrkräften beobachtet werden, sind eine Antwort auf die erheblichen Umstellungen, die im Zuge der Corona-Auflagen vorgenommen wurden. Es müsste viel mehr erstaunen, wenn diese Umstellungen ohne jede Schwierigkeit ablaufen würden. (7) Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Sämtliche Maßnahmen, die in der Corona­ Schule getroffen werden, stehen in einer sehr engen Beziehung zum Körper der Menschen. Es handelt sich also nicht um Regeln, die sich auf der Ebene moralischer Appelle abspielen, sondern um Vorschriften, die unmittelbar in den Körper der Beteiligten eingreifen. Auch in dieser Hinsicht ergibt sich eine Ähnlichkeit mit dem Aufenthalt im Krankenhaus. Dazu gehört zunächst die Beobachtung, dass Schülerinnen und Schüler im Zuge der Hygieneregeln dazu gezwungen werden, Vorgänge, die den eigenen Körper betreffen, auch gegen den eigenen Willen durchzuführen. Das Waschen der Hände, die Benutzung von Desinfektionsmitteln oder das Aufsetzen der Maske wird durch Vorschriften reguliert, die gleich beim Eintritt in die Schule verlangt werden und ohne die ein Schulbesuch nicht möglich ist. Andererseits betreffen diese Vorgänge aber auch sehr persönliche und intime Bereiche des Körpers. Hände und Mund sind sehr empfindliche Organe, deren Berührung fremden Menschen nur in Ausnahmefällen erlaubt wird. Veränderungen im Gesicht oder an den Händen werden sofort auch für andere Menschen sichtbar, so dass diesen Bereichen auch bei der Köperpflege besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das Schminken der Lippen oder das Anmalen der Fingernägel lässt erkennen, dass Händen und Gesicht eine große Bedeutung bei der Definition der eigenen Identität zukommt. Wenn diese intimen Bereiche zum Gegenstand fortgesetzter Eingriffe gemacht werden, dann wird damit auch der persönliche Bereich der Menschen berührt. Das Desinfizieren der Hände ist ein Reinigungsvorgang, bei dem in gewisser Hinsicht auch die Anzeichen der persönlichen Identität abgespült werden. Ebenso verdeckt die Maske den Mund als Ausdrucksmittel persönlicher Ansichten und Überzeugungen. Die Hygienemaßnahmen gleichen die individuellen Unterschiede einem standardisierten Einheitsmaß an und machen die Persönlichkeit der Menschen unsichtbar. In jedem Fall setzt sich die Corona-Schule aber über wichtige Grenzen hinweg, die zur Definition der eigenen Existenz gehören. Die Hygieneregeln verletzen Scham- und Peinlichkeitsschranken, die vor allem jüngere Kinder in ihrer Individualentwicklung gerade erst erworben haben. Sie fördern deshalb tendenziell regressive Züge. Wenn man bedenkt, wie sehr die Schule beispielsweise im Zuge der Missbrauchsdebatte darauf bestanden hat, körperliche Übergriffe oder Grenzverletzungen zu ahnden, muss dieses Verhalten einigermaßen überraschen. (8) Bei den Auflagen , die zur Eindämmung der Infektionsgefahr erlassen wurden, spielt die Gesichtsmaske eine zentrale Rolle. Sie ist gleichsam zum Symbol der Krise geworden, in der sich sowohl die Angst vor Ansteckung als auch die Hoffnung auf Eindämmung des Virus verdichten. Die Maske ist aber auch ein neues Kleidungsstück geworden, das im sozialen Verkehr der Menschen getragen werden muss. Es signalisiert sowohl die Bereitschaft, sich den Corona-Vorschriften zu unterwerfen als auch die Anerkennung all jener Gefahren, die von medizinischer Seite definiert werden. Dasselbe gilt auch für die Corona-Schule. Ohne Maske vor dem Gesicht darf kein einziger Schüler das Schulgebäude betreten oder über die Flure laufen. Die Maske muss aufgesetzt werden, wenn man zur Toilette geht, sich in Arbeitsgruppen zusammensetzt oder Klausuren schreibt. Selbst nachdem die Landesregierungen die Maskenpflicht im Unterricht aufgehoben haben, sind die Schulen den entsprechenden Empfehlungen nicht nachgekommen, sondern haben an die Verantwortung der Schülerinnen und Schüler appelliert und sie zum ,,freiwilligen” Tragen der Masken aufgefordert. Diese Freiwilligkeit wird jedoch in den meisten Fällen mit einem offenen oder verdeckten Zwang verbunden. Schüler, die sich auf die offizielle Aufhebung der Maskenpflicht berufen und die Maske im Unterricht absetzen, werden von ihren Mitschülern isoliert und auf Plätze in der Nähe des Lehrers oder der Lehrerin gesetzt. Offiziell wird erklärt, dass man damit die Distanz zu anderen Schülern vergrößern und auf diese Weise das Ansteckungsrisiko minimieren wolle. Der Platz neben oder vor dem Tisch des Lehrers ist in der Schule aber traditionell auch ein „Schandplatz”. Er dient seit langem dazu, die Urheber kleinerer oder größere Vergehen zu bestrafen und sie mehr oder weniger schutzlos dem kritischen Blick oder dem Gespött der Mitschüler auszusetzen. Wie bereits angedeutet, besteht eine andere Form der Bestrafung darin, die Kommunikation mit „maskenlosen” Schülern zu verweigern. Die Lehrkräfte signalisieren den betreffenden Schülern ausdrücklich oder unausdrücklich, dass ihre Wortmeldungen nicht zur Kenntnis genommen werden, solange sie sich nicht der allgemeinen Praxis des Maskentragens unterwerfen. Jemand, der in der Schule keine Maske trägt, besitzt sozusagen kein Recht zu reden oder zu sprechen. Die Kommunikation kann nur mit und durch die Maske erfolgen. Die Maske ist das Eintrittsgeld, das für die Teilnahme an der sozialen Kommunikation bezahlt werden muss. Jeder, der nicht bereit ist, dieses Eintrittsgeld zu zahlen, wird in den Status einer sozialen Nicht-Existenz versetzt. (9) Im antiken Theater sind die Schauspieler mit einer Maske (,,persona”) aufgetreten, mit der die typischen Züge ihrer Rolle symbolisiert werden sollten. Auch bei den rituellen Handlungen der Urvölker spielt die Maske eine wichtige Rolle. Ähnlich wie im Theater dient sie auch hier dazu, die individuellen Eigenschaften des einzelnen Menschen zurücktreten zu lassen und statt dessen allgemeine Attribute einer Gottheit oder einer schicksalhaften Konstellation in den Vordergrund zu rücken. Die Maske in der Corona-Schule besitzt eine ähnliche Funktion. Sie verdeckt einen beträchtlichen Teil des Gesichts und macht die persönliche Individualität des Trägers unkenntlich. Viele Lehrer, die zu Beginn des Schuljahres eine neue Klasse übernommen haben, berichten von Schwierigkeiten, den anwesenden Schülern die richtigen Namen zuzuordnen. In anderen Fällen wird erzählt, dass man die Reaktion der Schüler auf den eigenen Vortrag nur schlecht einschätzen könne. Durch die Maske werden alle Beteiligten dazu gezwungen, lauter als gewöhnlich zu sprechen. Die Maske unterdrückt bestimmte Anteile der menschlichen Kommunikation und dämpft das gesprochene Wort. Sie wirkt wie ein Filte r, der über die eigenen Lautäußerungen gelegt wird und manche Anteile gar nicht oder nur noch verzerrt zur Geltung kommen lässt. Das führt zum einen zu Verwechslungen und Missverständnissen, weil weder die Identität des Redners noch die Intention seiner Rede eindeutig erkannt werden können. Zum anderen hat das aber auch zur Folge, dass die Zwischentöne dieser Rede, die individuellen Feinheiten und Nuancen verschluckt werden. Die Maske ist wie im antiken Theater ein Werkzeug zur Ent­ Individualisierung des Redners. Besonders bei Brillenträgern beeinträchtigt die Maske aber auch die optischen Sinneswahrnehmungen. Die Maske führt dazu, dass die Brillengläser beschlagen und sich die betroffenen Schüler für längere Zeit halbblind durch die Räume bewegen müssen. Wenn sie auf ihrem Platz im Klassenzimmer sitzen, haben sie oft Probleme, den Tafelanschrieb oder die eigene Handschrift zu erkennen. Bei Brillenträgern gibt es eigentlich keine Position, in der die Maske ohne weitreichende Nebenfolgen für den Gesichtssinn getragen werden kann. Weitere Schwierigkeiten, die mit dem Maskentragen verbunden sind, beziehen sich auf den Umstand, dass die Maske den Atem an der eigenen Nase vorbei lenkt. Wer eine Maske trägt, riecht in zweifacher Hinsicht schlecht. Er nimmt die Gerüche der Umgebung weniger deutlich wahr, dafür die Gerüche des eigenen Atems um so mehr. Die häufig geäußerte Sorge, dass zu häufiges oder langes Tragen von Gesichtsmasken zu Erstickungsanfällen führen könnte, wird möglicherweise auch durch veränderte Bedingungen der Geruchswahrnehmung verursacht. Sowohl in symbolischem als auch in konkret körperlichem Sinne “erstickt” die Maske lebensnotwendige Austauschvorgänge mit der Umwelt. (10) Die Maske beeinflusst nahezu alle Sinneswahrnehmungen des Menschen: das Sehen, das Hören, das Sprechen, das Riechen. Sie verändert die einzelnen Wahrnehmungsformen, aber sie verändert dabei auch das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung. Sie ist ein Eingriff in den grundlegenden Modus des In-der-Welt-Seins (E. Straus). Die Maske wirkt wie ein Filter, der über die seelische Ausdrucksbildung gelegt wird. Sie hebelt den „Sinn der Sinne” aus und ersetzt diesen durch eine Art der Wahrnehmung, in dem die Kennzeichen eines individuellen oder persönlichen Zugangs zur Welt getilgt sind. An die Stelle der Individualität des Gesichts tritt die Unpersönlichkeit der Maske. Ähnlich wie die Abstandsregeln ist auch die Maske auf Abstand zu anderen Menschen angelegt. Die Maske legt über den spontanen Austausch mit Dingen und Menschen eine Barriere, die wesentliche Teile dieses Austauschs hemmt: Das Reden und Sprechen wird erschwert, Details und Nuancen der sinnlichen Wirklichkeit werden unterdrückt. Das Besondere der Maske besteht dabei darin, dass sie die Menschen nicht nur auf Abstand hält, sondern diesen Abstand von Anfang an in die Wahrnehmung mit einbaut. Die Masken sind sozusagen in die Sinnesorgane integrierte Abstandhalter. Sie verhindern, dass man sich mit den Details abgibt, die es bei Dingen und Menschen zu entdeckten gibt und lassen diese Details zu einem konturlosen Rauschen verschwimmen. Im Gegenzug werden aber die Wahrnehmung der eigenen Köpervorgänge verstärkt. Man realisiert die beschlagene Brille auf der Nase, aber nicht mehr die Dinge, die sich davor befinden. Man hört die eigene Stimme, aber nicht mehr die Bedeutung der Worte, die man ausspricht. Man riecht den eigenen Atem, aber man spürt nicht mehr die Gerüche und die Qualitäten der Umgebung . Die Maske wirft die Wahrnehmung sozusagen auf ein zuständliches Erleben des eigenen Körpers zurück. Sie ist gleichzeitig ein Mittel zur Entpersonalisierung der menschlichen Kommunikation und ein Instrument zur Verstärkung der körperlichen Resonanzräume. Sie schaltet die Beziehung zur Welt aus und ersetzt diese Beziehung durch das Verhältnis zum eigenen Körper. Corona steht für etwas, das an den Grundverhältnissen der seelische n Wirklichkeit, aber auch an den Bedingungen der Institutionen rüttelt, die diese Wirklichkeit zu kultivieren versuchen. An der Corona-Schule können wir beobachten, wie aus den Schülerinnen und Schülern eine Gemeinschaft von Autisten gemacht wird, die sich von der Welt zurückziehen und im Extremfall nur noch sich selbst wahrnehmen. (11) Aus eigenen Beobachtungen sowie aus Mitteilungen von Lehrkräften, Kinderärzten und Psychologen wissen wir inzwischen, dass die Regelungen der Corona-Schule zu erheblichen Belastungen bei allen Beteiligten führen. Wenn bisher selbstverständliche und gemeinsam eingeübte Handlungsabläufe zerstört werden, dann muss das notwendig zu erheblichen Verunsicherungen führen. Wie bereits erwähnt, reagieren Schülerinnen und Schüler auf diese Verunsicherungen sowohl mit Rückzugstendenzen als auch mit einer Zunahme aggressiver Ausdrucksformen. Viele Schüler haben unter den Bedingungen der Corona-Schule Schwierigkeiten, dem Gang des Unterrichts zu folgen und geben es irgendwann ganz auf, sich am Unterricht zu beteiligen. Auf der anderen Seite versuchen die Schüler aber auch, die stillgelegten Ausdrucksbewegungen auf andere Weise abzureagieren. Permanente Unruhe, Wutausbrüche oder Beleidigungen der Lehrkräfte gehören zum neuen Alltag der Corona-Schule. Viele Schüler entwickeln unter den Bedingungen der Corona-Schule aber auch scheinbar irrationale Ängste. Da Kinder den rationalen Hintergrund der verordneten Maßnahmen nicht ohne weiteres verstehen können, versuchen sie die fehlenden Sinnzusammenhänge durch Phantasien und private Theorien zu ergänzen. Scheinbar harmlose Handlungen wie das Händewaschen können dann als Angriff, als Bestrafung oder Verfolgung durch fremde Mächte erlebt werden. In einigen Fällen können die Ängste auch auf alle Tätigkeiten übertragen werden, die mit der Schule zu tun haben. Unter den Bedingungen der Corona-Schule kann die Ankündigung eines Deutsch-Tests mit einem bevorstehenden Corona-Test verwechselt werden und sich im Erleben der Kinder zu einer gefährlichen Bedrohung auswachsen. Es gibt Hinweise darauf, dass generalisierte Schulängste in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen haben. (12) Die Schule nimmt solche Schwierigkeiten in der Regel nicht zur Kenntnis. Die Lehrkräfte sind in der Hauptsache damit befasst, die zahlreichen und ständig wechselnden Vorschriften zur Bewältigung der Corona-Krise im Alltag der Schule zu realisieren und dafür zu sorgen, dass die Auflagen des Curriculums erfüllt werden. Gleichzeitig zeigt sich die Schule aber auch relativ unnachgiebig, wenn es darum geht, die vorgeschriebenen Regeln durchzusetzen. Niemand darf sich außerhalb des Rahmens bewegen, der durch das Corona-Regime vorgegeben wird. Schüler, die sich nicht an diese Vorgaben halten, werden mit dem Ausschluss aus der gemeinsamen Kommunikation bestraft und im Notfall von der Schule verwiesen. Als besonderes Druckmittel, das nicht einmal von der Schule selbst in Gang gesetzt werden muss, kann dabei der Test auf eine bestehende Corona-Infektion gelten. Bei Anzeichen einer Erkrankung suchen die Menschen heute häufig bereits freiwillig ein Test-Center auf und unterziehen sich der allgemeinen Corona-Prüfung. Ein positives Ergebnis hat zwangsläufig eine zeitlich befristete Quarantäne der betroffenen Personen zur Folge, führt in vielen Fällen aber auch dazu, dass weitere Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt werden. In den Schulen lassen sich mögliche Kontaktpersonen sehr schnell nachweisen und auffinden. Weil hier eine große Anzahl von Menschen regelmäßig auf relativ engem Raum beisammen ist, genügt ein einziger positiver Fall unter Lehrkräften, Schülern oder Eltern, um Quarantänemaßnahmen für ganze Schulklassen oder Jahrgangsstufen anzuordnen. Das hat zur Folge, dass nicht nur Corona, sondern auch das Gespenst der Quarantäne in der Schule beständig anwesend ist. Der Gedanke, dass “es” jeden jederzeit treffen könnte und im Falle eines positiven Tests der berufliche und private Alltag kompletter Familien stillgelegt se in könnte, besitzt eine disziplinierende Wirkung, die nur noch von der Androhung einer Gefängnisstrafe übertroffen werden kann. (13) Die Schulen waren auch schon in der Vergangenheit nicht bloß Institutionen, in denen es lediglich um die Vermittlung von Wissen oder Qualifikationen ging. Die gesellschaftliche Funktion der Schulen besteht darin, die einzelnen Individuen an den umfassenden “Körper” einer größeren Gemeinschaft oder Kultur anzupassen. Sowohl der Schule als auch der Kultur im Ganzen geht es darum, die Individuen “zu größeren Massen zusammenzuballen” (S. Freud). Die Strategien und Techniken , die die Schule dazu ausgebildet hat, entsprechen den Technologien, die sich auch in anderen Einrichtungen der modernen Gesellschaft finden lassen. M. Foucault hat darauf hingewiesen, dass es sich dabei in erster Linie um Techniken einer umfassenden Disziplinierung handelt. Durch räumliche Isolierung der Individuen, durch Elementarisierung und Wiederholung einfacher Handlungsabläufe sowie durch Dauerbeobachtung sämtlicher Handlungsvollzüge wird so etwas wie eine Appell-Maschine eingerichtet, die aus umherschweifenden Einzelwesen die “gelehrigen” Mitglieder der modernen Kultur herstellt. Die Corona-Schule wirkt aus diesem Blickwinkel wie eine Perfektionierung dieser Appell­ Maschine. Sie versucht nicht mehr nur Einfluss auf das Denken und Handeln ihrer Schüler zu nehmen, sondern sie nimmt auch deren Körper in Besitz und erklärt sie zu ihrem vollständigen Eigentum. Die Corona-Schule bemächtigt sich der individuellen Körper und richtet sie so zu, dass sie dem umfassenden Gesellschafts-Körper entsprechen, wie er in unserer gegenwärtigen Kultur vor allem vom Bild der Medizin bestimmt wird. Die einzelnen Kinder-Körper werden gleichsam zu einem medizinischen Volks-Körper zusammengesetzt. Wenn der Gesundheitsminister im Zusammenhang der Corona-Krise von einem “Charakter­ Test” für die ganze Bevölkerung spricht, dann weist er auf die gesellschaftliche, aber ungewollt auch auf die totalisierende Funktion dieser Krise hin. Er kündigt implizit an, dass in einer Gesellschaft, die sich dem Regime eines medizinisch geprägten Kultivierungsmusters unterwirft, nur bestimmte “Charaktere” zugelassen sind und sämtliche Abweichungen von diesem Bild als “charakterlos” ausgeschlossen werden müssen. Aus der Perspektive solcher Perfektions- und Reinheitsideale müssen die spontanen Ausdrucksbildungen der Kinder ebenfalls als “charakterlos” erscheinen. Es überrascht daher nicht, dass die Schulen selbst als “Hotspots” für eine mögliche Verbreitung des Virus gelten und den Kindern eingeredet wird, sie könnten mit ihrem Verhalten die Gesundheit ihrer Lehrer, Eltern oder Großeltern bedrohen. Das bedeutet aber auch, dass das kindliche Seelenleben, das in den Schulen gesellschaftlich adaptiert werden soll, im Zuge der Corona-Krise zu einem lebensbedrohlichen Träger von Ansteckungs- und Krankheitsgefahren mutiert ist. Anstatt die Hoffnung auf Veränderung und Erneuerung der Wirklichkeit zu beleben, verbindet sich der Alltag in Schule und Gesellschaft mit der paranoiden Angst vor der Zerstörung dieses Alltags durch die eigenen Kinder. © IQ BILDUNG, Institut für Qualitative Bildungsforschung, 20.10.2020

Versagung von Alltagsformen in der Corona-Zeit

ein Beitrag von Dirk Blothner

Für Wilhelm Salber war der Alltag so etwas wie der „Leib des Seelischen“. Die Alltagsformen, die wir aufgreifen und abwandeln, verstand er im Rahmen dieser Analogie als Hände, Füße etc. eines psychischen Organismus, der sich in den Formen der Alltagskultur versteht und behandelt. Was passiert nun, wenn diesem Seelenleib „Organe“ entzogen werden – wie das zum Beispiel im Corona-Lockdown der Fall war und sich bis in die aktuellen Kontaktbeschränkungen und Verhaltensauflagen fortsetzt?

In unserem Corona-Blog haben Kollegen aufgezeigt, wie erfindungsreich die Menschen darin sind, Einschränkungen auf anderem Gebiet zu kompensieren. Zum Beispiel entdeckten sie während des Ausgehverbots die Wunder des Augenblick. Sie richteten sich auf intensivere Erfahrungen mit Kochen, Essen, Verweilen und Gesprächen in der Familie ein. Aber nicht alle entzogenen Alltagsformen können von allen gleichermaßen kompensiert werden. Dazu gehört für viele die „gemütliche Runde“, die man zeitgemäß auch gerne als „Quatsch-Runde“ bezeichnet. Hiermit scheint eine Alltagsform gegeben zu sein, auf die das Seelische gar nicht so leicht verzichten kann. In unserer Serie „Alltagsformen“ haben wir sie kürzlich zum Thema gemacht.

Was ist den Menschen die „gemütliche Runde“? In ihrer freien Zeit setzen sie sich zueinander und lassen sich von dem Austausch, der sich daraus entwickelt für einige Zeit treiben. Es entfaltet sich eine rege Produktion wechselnder Bedeutungen, die die Teilnehmer der Runde erfassen. Die einzelnen gehen in Erzählungen und Thematiken auf, tragen ihres dazu bei und genießen dabei eine ungewöhnlich breite und manchmal auch ungezügelte Ausdrucksbildung. Ihre Erzählungen finden in den Reaktionen der anderen Bestätigung, Steigerung und Kontur. Es werden Positionen eingenommen, die man in anderen Situationen eher für sich behält. Es können Angriffe gegen Anwesende und Abwesende gefahren werden und doch – im zweiten Fall auch deswegen – hält die Runde unausgesprochen zusammen.

Man sollte nicht unterschätzen welch psychohygienische Funktion die gemütlichen Runden haben und welch einen Entzug es bedeutet, wenn diese Form des Zusammenseins für lange Zeit erschwert oder gar untersagt ist. Es geht an dieser Stelle nicht um das Aufkommen von Einsamkeit, das viele Alleinwohnende in der Zeit des Lockdowns beklagten. Das ist ein Problem für sich. Mit der Quatsch-Runde wird dem Seelischen eine Alltagsform entzogen, die für viele eine ähnlich selbstregulierende Funktion hat wie das nächtliche Träumen. Es geht bei ihr um spielerische Formen des Austauschs, weitere Ausdrucksformen, die den Alltag für eine Stunde anders angehen lassen. Die Menschen „verschmelzen“ in der gemeinsamen Runde nicht mit den anderen, sondern ihr Seelisches genießt für diese Zeit einen größeren Kreis von Gestaltung, der in den durch Aufgaben bestimmten Tagesläufen nur wenig Umsatz findet. Das sind Vorgänge, die wir oft verkürzend und vereinfachend mit „Kontakt“ oder „Nähe“ umschreiben.

Eine Abwandlung der „gemütlichen Runde“ ist „das Feiern“. Beim Feiern wird der spontane Austausch mit Alkohol und Drogen beschleunigt und verstärkt. Je mehr Rhythmen und Musik dazu kommen und Drogen genossen werden – etwa in Diskotheken – desto mehr tritt die Produktion von Bedeutungen zurück und besteht die Verbindung in Formen sprachloser, gemeinschaftlicher Ekstase. Offenbar hat sich das Feiern im Alltag junger Menschen auf eine Art und Weise etabliert, dass Ängste entstehen, wenn Kontaktbeschränkungen auf Verzicht drängen. Trotz der Kontaktbeschränkungen kommen daher entweder in abgeschirmten Räumen oder unter freiem Himmel die Feiernden wiederholt zusammen. Es ist als ließe sich das Seelische in dieser Hinsicht nicht „an die Kandare“ nehmen. Manchmal gelingt es auf diese Weise, die vertraute Ekstase für ein paar Augenblicke entstehen zu lassen. Wenn dann Ordnungskräfte eingreifen und die Feiernden auseinandertreiben wollen, bäumt sich die Ad-Hoc-Runde gegen ihre Zerstörung auf. Eine von Angst getriebene Zerstörungswut kann sich ausbilden.

Nach dem mehrere Wochen andauernden Lockdown wurden die verhängten Kontaktsperren nach und nach wieder aufgehoben. Sie wurden abgelöst durch Abstandsregeln und Maskenpflicht in öffentlichen, geschlossenen Räumen. Aber noch immer sind einiges Bars und alle Clubs geschlossen und es sieht so aus, als würde das längere Zeit noch so bleiben. In diesem Zusammenhang treten verstärkt Proteste, Demonstrationen und in manchen Städten kollektive Angriffe auf Polizisten und mutwillige Zerstörungen statt. Anfang August kamen auf einer bundesweiten Demonstration in Berlin an die zwanzigtausend Menschen zusammen. Sie setzten sich aus einem breiten politischen Spektrum zusammen. Man konnte unter ihnen viele Teilnehmer erkennen, die aus gemäßigten bürgerlichen Milieus kamen. Nun lassen sich diese Proteste und Demonstrationen nicht alle aus einem psychologischen Zusammenhang heraus ableiten, aber vielleicht kann die morphologische Alltagspsychologie mit ihrer Analyse der „gemütlichen Runde“ dabei helfen, einen Teil dieser Proteste und Ausschreitungen zu verstehen.

Aktueller Beitrag von Stephan Grünewald

Grünewald hat dem FOCUS ein aktuelles Interview zu dem Stand der Corona-Epidemie gegeben. Demnach sind wir jetzt in einer Phase, in der die Menschen neue Verhaltensnormen für einen Alltag mit Corona entwickeln. Sie versuchen das Verhältnis zwischen Einschränkung und Ausleben auszutarieren. Dazu gehören auch sporadische Grenzüberschreitungen. Zur Erinnerung die 4 Corona- Phasen: 1. Vor dem Lockdown: Kollektiver Bremsaktivismus 2. Nach dem Lockdown: Zweifel und Polarisierungen 3. Nach den “Lockerungen”: Enttäuschung – Trauer und Trotz 4. Urlaubszeit: Neu-Justierung des Alltags zwischen Einschränkung und Ausleben Über diesen LINK kommen sie direkt zu dem aktuellen Interview

Corona Blues

ein Song von Günter Mahlke Als Beitrag für den Corona-Blog der Wilhelm Salber Gesellschaft hat Günter Mahlke einen Song eingereicht. Gerne nehmen wir ihn in unsere Beitragsreihe auf. Über den folgenden Link kommen Sie direkt zu YouTube: Corona-Blues von Günter Mahlke  

Weitere Überlegungen zur Wirkungseinheit “Corona”

ein Beitrag von Werner Pohlmann In seinem letzten Blog hat Dirk Blothner das Verhältnis von Handlungseinheiten zu Wirkungseinheiten ins Zentrum seiner Überlegungen gerückt und dabei die wichtige Frage gestellt, ob die neuen Alltagserfahrungen, die die Menschen seit Corona machen, auch zu einer Neubewertung führt, wie wir in Zukunft unsere Wirklichkeit behandeln wollen. Seine Ausführungen lassen dabei eine deutliche Skepsis verspüren, ob unsere Kultur sich zu einer „revolutionären“ Entschiedenheit durchringen kann, die zu einer Verwandlung der „Auskuppelkultur“ führen könnte. In Abwandlung des von Greta Thunberg geprägten Satzes „How dare you!“ stellt er die Frage: „Wer wird es wagen, die Qualität der Stundenwelten, die wir in der Corona-Zeit erfahren, durch politische und gestalterische Entscheidungen in einer Art und Weise zu institutionalisieren, dass die Kultur nach dem Abklingen der Pandemie vielleicht doch einen anderen Weg einschlagen kann?“ Damit diese Frage deutlicher in unser Bewusstsein rücken kann, hilft vielleicht die Anerkennung des Paradox, dass es gerade der Corona Virus ist, der uns das geheime Betriebsgefüge unserer Kultur nun Schritt für Schritt offenbart: wir wollen Fleisch essen, aber verdrängen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen für Mensch, Tier und Klima dieser Wunsch „erkauft“ wird; wir wollen zu jeder Zeit an jeden Ort in der Welt reisen, aber verdrängen nicht nur die damit verbundenen Klimafolgen, sondern auch die Zerstörung von Orten, die als „touristische Ziele“ gehypt werden; wir wollen, dass „unser Geld“ für uns arbeitet und produzieren dabei einen Kapitalmarkt, dem kein materialer Gegenwert mehr entspricht, was man dann verharmlosend „Blasen“ nennt. Die Verlangsamung des Alltags während der Kontaktbeschränkungen hat u. a. dazu geführt, dass die Menschen ihre Kleiderschränke durchforstet und festgestellt haben, dass sie viel zu viel besitzen, was sie bisher ironisch mit dem Satz kommentiert haben: Ich habe den ganzen Schrank voll nichts anzuziehen. Wenn sie aber jetzt weniger Kleider kaufen, bricht eine ganze Industrie in den ärmsten Ländern der Welt zusammen. Der ZEIT-Autor Bernd Ulrich hat das in der jüngsten Ausgabe der ZEIT zum Ausdruck gebracht, wenn er von einer „virophilen Welt“ spricht, in der wir leben, weil wir mit der globalen Fertigung und Mobilität, mit unserer Massentierhaltung, der Zerstörung der Urwälder, Wanderarbeitern rund um den Globus, Produktion von Flüchtlingen etc. gerade die kulturellen Vorerkrankungen herstellen, die ein Virus braucht, um seine tödliche Wirkung zu entfalten (ZEIT-Nr. 22, vom 20.05.2020, S. 3). Wenn wir also die Folgen unseres Handelns, ob in den Handlungseinheiten des Alltags oder im politischen Handeln, weiterhin ausblenden und an der Auffassung festhalten, dass unser bisheriges Verhalten alternativlos sei, dann bewegen wir uns in dem Bereich, den Salber als „Verkehrt-Halten“ herausgestellt hat. Es ist ja nicht so, als wüssten wir nicht um die verkehrenden Seiten unserer Handlungen, aber wir halten unverrückbar daran fest, dass wir nur so in Wohlstand und Freiheit leben können. In der Auskuppelkultur wurde totale Verfügbarkeit simuliert durch ein „Anything goes“ oder ein „Nichts ist unmöglich“, aber auch dadurch, dass wir in kleinteiligen Änderungen, die doch immer nur mehr desselben waren, uns Verfügbarkeit über dieses paradoxe Ganze vorgegaukelt haben. Der Virus aber macht uns nun darauf aufmerksam, dass wir die Verkehrungserfahrungen nicht mehr vermeiden können. Wie in einer psychotherapeutischen Behandlung muss daher zunächst dieses Verkehrt-Halten als Widerstand bewusst gemacht werden gegen die Erfahrung, dass wir selber uns eine Begrenzung gegeben haben, über die hinaus wir keine weitere oder andere Entwicklung mehr wollen. Immerhin bringt uns der Virus in die Situation zu verspüren, dass es auch anders gehen kann, dass ein „Weiter so“ nicht mehr so einfach möglich ist. Leider ist das aber oft mit sehr schmerzlichen Erfahrungen verbunden, die uns wieder vor die Entscheidung stellen, soll sich wirklich etwas verändern oder will man doch wieder schnell ins alte Leben zurückkehren. Zu den Widerständen gehören auch die Verschwörungstheorien, die ablenken sollen von der eigenen Verantwortung, indem sie diese irgendwelchen dunklen Mächten zuschieben. Vielleicht müssen wir aber auch wahrnehmen, dass uns die Auskuppelkultur schon längst zu einer Sucht geworden ist, die wir glauben nicht aufgeben zu können. Darauf würde uns dann eine zweite Welle hinweisen, von der immer wieder gewarnt wird. Aber diese Warnungen verhallen wie die Rufe der Kassandra, der auch niemand mehr Glauben schenkte, weil doch auch alles nicht so schlimm gekommen ist, wie es prophezeit wurde.

Weitere Fotografien aus Mecklenburg-Vorpommern

aufgenommen und bereitgestellt von Linde Salber

Vor einigen Wochen, auf dem Höhepunkt der Kontaktbeschränkungen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, hatten wir eine Serie von beeindruckenden Fotografien gezeigt, die Linde Salber in Mecklenburg-Vorpommern aufgenommen hatte. Die anbei zu sehenden sechs Fotografien stellen einen weiteren Beitrag Linde Salbers zu unserem Blog dar. Alle Rechte liegen bei der Fotografin.

Ergebnisse einer Studie zu den Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen im Alltag

Vor einigen Wochen hatten wir Ihnen die Möglichkeit gegeben, sich als Interviewpartner an einer Studie von Daniel Piontek und Dr. Hans Christian Heiling über die Auswirkungen der Corona-Krise auf das Alltagsverhalten der Menschen zu beteiligen. Die Studie wurde inzwischen fertiggestellt. Unter diesem Link können sie die Ergebnisse nachlesen.

Mit Hollywood die Corona-Pandemie verstehen?

ein Beitrag von Dirk Blothner Vor 25 Jahren war das Desaster-Movie „Outbreak“ (USA 1995) in den Kinos zu sehen. Die Story drehte sich um den Kampf gegen die rasante Ausbreitung einer Virus-Epidemie. Dabei handelte es sich um einen Erreger, der zunächst über den Kontakt von Menschen und dann – nach einer Mutation – über kleinste Tröpfen in der Luft übertragen wurde. Auch zeichnete er sich durch eine überaus kurze Inkubationszeit und einen grausamen, tödlichen Krankheitsverlauf aus. Namhafte Schauspieler wie Dustin Hoffman, Rene Russo, Morgan Freeman und Donald Sutherland spielten in der eindrucksvollen Hollywood-Produktion die Hauptrollen. Der damals noch unbekannte Kevin Spacey war in einer Nebenrolle auch dabei. Ich möchte an dieser Stelle kurz darlegen, was der Film uns heute, nach 25 Jahren, über das Pandemie-Erleben sagen kann. Wenn man sich „Outbreak“ heute ansieht, findet man einige, durch die aktuelle Pandemie bekannt gewordene, Namen und Bilder wieder. Zum Beispiel war die „Johns Hopkin Universität“ offenbar schon damals bei der Erforschung von Epidemien führend. Das Gesundheitssystem kommt auch in dem Film aus den 1990er Jahren schnell an die Grenze seiner Kapazitäten. Sogar die grauenvollen Bilder von Militärwagen, die Leichen abtransportieren – sie kamen über das Fernsehen zuerst aus Italien zu uns – sind in dem Film zu sehen. Was wir an „Outbreak“ über Formen des Umgangs mit Virus-Epidemien beobachten können, hat vor allem mit der Erfahrung von Bedrohung zu tun. Die Geschwindigkeit, in der sich die vom Virus ausgelöste Krankheit ausbreitet, ist sehr viel schneller, als wir sie in März und April des Jahres erfahren haben. Die Symptome, die die zahlreichen Statisten im Film erleiden, sind sehr viel schrecklicher und grauenvoller, als wir es in unseren Tagen beobachten können. Es gibt eine Szene in dem Film, in der mit eindrucksvollen Animationen „gezeigt“ wird, wie sich das Virus während einer Kinovorstellung auf die ahnungslosen Besucher verteilt. Und nur wenige Filmminuten später füllen sich schon die Krankenhäuser mit sterbenden Patienten. Das ist die Seite der Bedrohung, die mit der Infektion durch das Virus verbunden ist. Gespiegelt und zugleich gesteigert wird sie durch die überaus drastischen und konsequenten Formen, mit denen das amerikanische Militär den Kampf gegen es aufnimmt. Gleich zu Beginn wird im Rückblick auf die 1960er Jahre ein afrikanische Dorf, in dem die Epidemie sich zum ersten Mal zeigte, durch Einsatz einer alles verwüstenden Bombe ausgelöscht – womit zugleich die Epidemie erst einmal gestoppt wird. In der hierauf erzählten Geschichte, die sich in den USA ereignet, plant das Militär – nachdem eine Eindämmung der Epidemie mit konventionellen Mitteln nicht zu gelingen scheint – eine ähnlich radikale und folgenschwere Aktion. Eine ganze Kleinstadt, die vorher abgeriegelt und umzingelt wurde, soll mit einer um einiges größeren Bombe samt ihren Einwohnern dem Erdboden gleich gemacht werden. Freilich gelingt es Dustin Hoffman dann doch noch in letzter Minute, das Wirtstier des Virus aufzufinden und ein rettendes Serum aus dessen Blut herzustellen, aber das Gefühl einer enormen Bedrohung von allen Seiten macht im ganzen doch den roten Faden der Komplexentwicklung bei „Outbreak“ aus. In „Outbreak“ liegt die Bekämpfung des Virus in den Händen des Militärs. Dieser Aspekt des Filmplots erinnert an Formulierungen, die wir 2020 zu Beginn der sich ausweitenden Pandemie von manchen Politikern hören könnten. Zuerst war es der amerikanische Präsident, der von einem Krieg gegen das Virus sprach und dann der französische: „Nous sommes en guerre!“ Die Eindämmungsmaßnahmen, die in den Wochen darauf eingesetzt wurden, waren allerdings sehr viel beweglicher und vor allem auch „ziviler“. Vielleicht hat es wirklich etwas Gutes, dass diese Aufgabe in der Hand von Politikern und nicht des Militärs liegt. „Outbreak“ verdeutlicht mit den hier herausgehobenen Momenten auf eindringliche Weise die Gefahr, die jederzeit von noch nicht erforschten Viren ausgehen kann. Diese Gefährdung, die uns Anfang 2020 in der Realität getroffen hat, tritt in den dramatischen Bildern des Films deutlicher heraus. Wir können ihr zwar mit der Haltung „Ist ja nur ein Film“ begegnen, aber wir können sie auch zum Anlass nehmen, ein Runterspielen der mit einer Virus-Pandemie verbundenen Gefahren in Frage zu stellen. Wer also heute Zweifel hat, dass die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus angemessen waren, mag sich den beeindruckenden Film von Wolfgang Petersen ansehen. Man kann ihn über den Stream von Amazon Prime erleben.

Aktuelle Interviews mit Stephan Grünewald

Stephan Grünewald ist in diesen Wochen ein sehr gefragter Interviewpartner. Auf der Grundlage seiner Bücher über die Alltagskultur in Deutschland und laufender Untersuchungen des rheingold Instituts eröffnen seine Beiträge einen ungewohnten Blick auf die Corona-Zeit. Mit der Berufung in den Expertenrat des Ministerpräsidenten von NRW Armin Laschet hat Grünewald zusätzliche Prominenz erlangt. Mit jeweils einem Klick können Sie a) einen Stern-Beitrag mit den vielsagenden Abbildungen: Stern Grünewald Gespräch 04 2020 und b) eine Interview-Kolumne des KSTA vom 27. April 2020: KSTA_Gruenewald öffnen.

Das Ende der Auskuppelkultur?

ein Beitrag von Dirk Blothner Auch wenn Ende April 2020 die Bereitschaft vieler Menschen nachlässt, sich zur Eindämmung der Corona-Pandemie an die von der Politik vorgeschriebenen Kontakt-Einschränkungen zu halten, kommt doch hin und wieder die Frage auf, ob mit der weltweiten Krise ein Ende der „Auskuppelkultur“ (Salber 1993) verbunden sein könnte. Diese Frage macht sich an der Beobachtung einer veränderten Verfassung des Alltagslebens unter dem staatlich verordneten „Shutdown“ fest. Wurden sie in den beschleunigten Tagesläufen gerne übergangen, treten nun kleine Wunder des Alltags ins Bemerken. Längere Gespräche, für die es vorher „keine Zeit“ gab, entfalten einen vielversprechenden Reiz. Sorge um andere, verstärkte Rücksichtnahme schaffen Momente der Nähe bei aller räumlichen Distanzierung. Der Alltag mit seinen materialen Anhaltspunkten, seinen witzigen Wendungen und mitreißenden Dramen erscheint farbiger und lebenswerter. Solche Phänomene könnten auf das Nachlassen eines durch Abstraktionen und Formeln geleiteten Umgangs mit der Wirklichkeit hinweisen. Salber hatte ihn als einen wesentlichen Zug der Auskuppelkultur herausgestellt. Die Veränderungen könnten sich fortsetzen in einer Neubewertung von Reisewünschen, psychischen wie physischen Beschleunigungen und der Bezogenheit auf Wachstum und stetig steigenden Wohlstand. Erfuhren gegen den Mainstream der zeitgenössischen Kultur gerichtete Haltungen vor der Krise vielleicht über moralische Appelle, wechselnde Medienströmungen oder in Achtsamkeits- und Yogakursen eine Bestärkung, so erwachsen sie nun aus dem spürbar eingeschränkten Alltag der Menschen. Handelt es sich bei diesen Veränderungen um das Ende des Ein- und Auskuppelns aus den Entwicklungszusammenhängen der menschlichen Wirklichkeit? Hat uns das Virus eine andere Form der Behandlung von Wirklichkeit beigebracht, die unseren Alltag dauerhaft neu ausrichten wird? Ich möchte diese durchaus wünschenswerten Aussichten in Frage stellen. Denn selten haben die Menschen den Nachhall von Schockwirkungen und Einschränkungen zur Einrichtung einer lebensbejahenden Ordnung nutzen können. Denken wir an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der zu circa 17 Millionen Toten geführt hatte. Verglichen mit den Einschränkungen durch die Corona-Krise waren die mit dem Krieg verbundenen Leiden, Verluste und Beschneidungen unermesslich. Und doch waren die Deutschen nur zwanzig Jahre später dazu bereit, sich auf ein neues und schlimmeres Kriegsabenteuer einzulassen. Die kollektive Bewältigung von Entbehrungen scheint nicht automatisch zu einer freundlicheren Ordnung des Zusammenlebens zu führen. Die Bereitschaft, die eigene Realitätsprüfung an andere abzugeben, die Bezogenheit auf autoritäre Führung und vor allem die unbewusste Tendenz, Einheitswünsche mit Knüppelgewalt (s. das Märchen „Tischlein deck dich“) durchzusetzen, waren schließlich mächtiger und setzten sich trotz der nur wenige Jahre zurückliegenden, traumatischen Zustände wieder durch. Mit der Unterscheidung von Handlungs- und Wirkungseinheiten hat die Morphologie ein Konzept entwickelt, den Rahmen der hier verfolgten Fragestellung methodisch-theoretisch abzustecken. Die Handlungseinheiten des Alltags scheinen sich unter dem Eindruck der Kontaktbeschränkungen bei vielen Menschen tatsächlich in dem Sinne, wie eingangs beschrieben, zu verändern. Doch dies geschieht weniger auf der Grundlage autonomer Ausrüstungen. Die Menschen werden in diesen Tagen aufgrund staatlicher Eingriffe in ihren Unternehmungen eingeschränkt und entwickeln vor allem deshalb eine andere Haltung zum Alltag. Die „Zwerge am Wegesrand“, die im Märchen auf „panischen Reisen“ (Salber) vorbeieilenden Zeitgenossen den Reiz des unendlichen Augenblickes eröffnen, sind unter den Bedingungen des „Shutdown“ zu ihren Begleitern geworden. Aber eine Zerdehnung von Handlungseinheiten macht noch keine veränderte Kultur-Wirkungseinheit. Wenn die Vorgaben der Politik nach und nach entfallen – und in diesem „Lockerungsprozess“ befinden wir uns derzeit – bedeutet das nicht, dass die Menschen an den veränderten Alltagserfahrungen festhalten oder festhalten können. Veränderte Behandlungsformen von Wirklichkeit können nur von Dauer sein, wenn ihnen von Seiten der Kultur aufgreifbare Formen bereitgestellt werden. Würde die Kultur (Wirkungseinheit) jetzt neuartige Gestaltungsformen institutionalisieren, festhalten und immer wieder verfügbar machen, könnten sich die Menschen die andersartigen Verfassungen allmählich zu eigen machen, die sie in den Handlungseinheiten der Corona-Zeit kennenlernten. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg von unseren Breiten keine dritte, weltweite Verwüstung ausging, ist der Tatsache zu verdanken, dass mitten im Kalten Krieg in den 1960er Jahren eine wirkliche Kulturrevolution stattfand. Mit den veränderten Freizeitformen, mit der aufblühenden Pop-Musik, der Entwicklung der Unterhaltungs- und Austauschmedien und der mit all diesen Dingen verbundenen Institutionalisierung einer Vielfalt von Alltagsformen – also mit dem Einrichten der materiellen Grundlagen für die „Auskuppelkultur“ – konnte sich das Seelische zu einem weitgehend selbstgenügsamen Gleiten ausformen, das die vernichtenden Einheitswünsche der Weltkriegszeiten überformte und auf weltumspannende Medienereignisse verschob. Wir können uns an diesen Zusammenhängen (noch einmal) deutlich machen, dass Seelisches kein ‚innerer‘ oder ‚mentaler‘ Zusammenhang ist. Es ist verankert in der Wirklichkeit, in den Dingen und apersonalen Gestaltungsformen der Kultur. Soll es also zu anhaltenden, über die Corona-Zeit hinausgehenden, Veränderungen kommen, müssen für diese ähnliche Verankerungen bereitgestellt werden wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne sie werden sich die unter den Kontakteinschränkungen entwickelten Einsichten und Neubewertungen wieder auflösen. Das Auskuppeln, das Wilhelm Salber in dem Grimm‘schen Märchen „Der Krautesel“ gespiegelt sah, gehört noch nicht der Vergangenheit an. Auch nicht nach den deutlich sichtbaren Veränderungen, die mit den Corona-Einschnitten verbunden sind. Wer wird es wagen, die Qualität der Stundenwelten, die wir in der Corona-Zeit erfahren, durch politische und gestalterische Entscheidungen in einer Art und Weise zu institutionalisieren, dass die Kultur nach dem Abklingen der Pandemie vielleicht doch einen anderen Weg einschlagen kann? Einen Weg, der den Bedingungen und Notwendigkeiten, aber auch den Möglichkeiten der menschlichen Wirklichkeit nur ein Stück weit gerechter wird? Wilhelm Salber hat seit den 1990er Jahren die Frage bewegt, welches Lebensbild die Auskuppelkultur ablösen wird. Er hat die Grimm’schen Märchen daraufhin untersucht und eine Reihe von interessanten Entwicklungsperspektiven z.B. in „Das Wasser des Lebens“, „Rapunzel“, „Das Meerhäschen“ und „Schneeweißchen und Rosenrot“ gefunden. Aber seine Analysen machen auch deutlich, dass eine wirklich weiterführende Kulturveränderung um einiges aufwändiger sein wird, als wir es uns wünschen. Darüber hinaus scheint Kulturrevolution ein Ereignis zu sein, das sich weniger über bewusste und fleißige Arbeit und mehr durch disruptive, sich unbewusst ergebende Verwandlungen vollzieht.

Weitere Gedanken zur Wirkungseinheit Corona

ein Beitrag von Werner Pohlmann Corona deckt vielleicht noch mehr, als dass das die Finanzkrise 2008/09 getan hat, das Getriebe der globalisierten Welt auf. Es gibt nichts außerhalb dieses Getriebes und alle Einzelheiten werden von diesem Getriebe bestimmt. Das zeigen nicht nur die Ausgangsbeschränkungen weltweit, sondern auch die weitgehenden Vereinheitlichungen in den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus. Corona macht uns auf unsere Abhängigkeiten aufmerksam, die wir unter dem Slogan „anythings goes“ oder „nichts ist unmöglich“ so gerne verdrängt haben. Plötzlich ist es nicht mehr möglich, auf Knopfdruck Schutzausrüstungen zu besorgen. „Die Pandemie ist ein Brennglas“, wie es Thomas Assheuer in der ZEIT formuliert hat. Wir sehen nun diese Abhängigkeiten und das zugleich damit verbundene Versalitätsproblem. Das Ganze ist in seiner an sich schon bestehenden Unverfügbarkeit nun auch in seiner Unberechenbarkeit durch die Gestalt des Virus sichtbar geworden. Das ruft verständlicherweise eine verstärkte Kontrolle hervor, für die die Erklärungen der Wissenschaft garantieren sollen. Alle Bereiche des Lebens stehen nun auf einmal unter dem Diktat wissenschaftlicher Erklärungen. Diesen Maßnahmen gegenüber versucht man sich zunächst durch Verharmlosungen zu wehren: Es ist doch alles nicht so schlimm wie prophezeit; die Epidemie ist auf China beschränkt, etc. Aber in der globalen Welt kann sich nichts unseren Blicken entziehen, so dass wir dann nicht mehr die tragischen Bilder mit Hunderten von Särgen, die mit Militärfahrzeugen an unbekannte Orte verbracht wurden, übersehen können. In dem Moment können wir das Problem nicht mehr von uns fernhalten und müssen im Berührtwerden durch die Katastrophe zugleich wieder Abstand nehmen gegenüber unseren Liebsten. Den Totalitarismus eines todbringenden Virus versuchen wir jedoch weiterhin, wiederum verständlich, abzuwehren durch Schuldzuweisungen, durch Ausbreitung unzähliger möglicher Ursachen oder Behandlungsmethoden, wie sie im Netz kursieren. All das soll den Blick darauf verstellen, dass wir dieses ganze Geschehen niemals vollständig in den Blick nehmen können, dass niemals die „eine“ Maßnahme hilft. Eine andere Form der Abwehr ist die Beschwörung „alles wird gut“, so als verschwinde der Virus aus der Welt, wie er plötzlich in sie gekommen zu sein scheint. Vielleicht verstehen wir etwas von dem Getriebe des Lebens, in das uns das Virus gestellt hat, über das Märchen „Das Meerhäschen“. Es behandelt das Verhältnis von grenzenloser Ausbreitung und begrenzenden, kontrollierenden Maßnahmen als zentrale Verfassung der aktuellen Wirkungseinheit „Corona“. In seiner sich ausbreitenden Wirkung werden wir in einer Weise davon angeeignet, dass eine kontrollierende Ordnung entsteht, der gegenüber andere Lösungsmöglichkeiten (Ausrüstung) scheinbar ohnmächtig scheinen. Zu einer grundlegenden Verwandlung kann es dabei nur kommen, wenn man den „inneren Zusammenhang“ dieser Wirkungseinheit in Gestalt dieses Verhältnisses in den Blick nimmt. Das Corona-Virus ist nämlich nichts Isoliertes und zu Isolierendes, das man dann aus der Welt schaffen könnte, sondern es schreibt eine aktuelle Geschichte unseres Lebens aus diesem Verhältnis heraus, das dieses Märchen behandelt.

Aktuelle Fotografien aus Mecklenburg-Vorpommern

aufgenommen und bereitgestellt von Linde Salber

In diesen Wochen ist Linde Salber in ihrer Wahlheimat Mecklenburg-Vorpommern mit der Fotokamera unterwegs. Besonders in den Abendstunden fängt sie Szenerien ein, die auf eine eigentümliche Art die Zeit des Corona-Shutdowns zu berühren scheinen. Wir haben eine erste Auswahl dieser beeindruckenden Bilder für die Leser unseres Corona-Blogs zusammengestellt. Alle Rechte für die Fotografien liegen bei Linde Salber.

Prozess-Offenheit braucht festen Rahmen

ein Beitrag von Susanne Wiesmann Nach der Ohnmacht angesichts von Corona soll idealerweise eine Offenheit für Verwandlung eintreten. Dazu muss eine Offenheit des Denkens möglich sein, also das Ertragen davon, dass man nicht alles schon weiß, dass es keine Wahrheiten gibt, sondern dass man auf meh- reren Wegen herausfinden kann, wie man weiterkommt. Die Wissenschaftler sind dafür ein Beispiel: Sie finden in Prozessen heraus, was es mit diesem Virus auf sich hat und was zur Bekämpfung wirkt. In solche Prozesse auch selbst einzutreten im Beruf wie im Privatleben, könnte etwas Neues bedeuten und den Arbeits- wie Familienalltag bereichern, ebenso wie die politische Diskussion zu den ‚heißen‘ Eisen, die derzeit nur fest vorgedeutet behandelt werden dürfen. Die Offenheit, die auch Steinmeier für Neues in Aussicht gestellt und gefordert hat (leider von ihm nur als soziale Offenheit zum Teilen und Geben ausgelegt), entsteht paradoxer- weise nur dann, wenn ein fester Gegenpol in der Kultur gegeben ist. Sowie die Kinder am breitesten interessiert sind und sich am besten in Themen vertiefen können, wenn der Rahmen, den die Eltern setzen, klar und verlässlich statt beliebig ist, so brauchen auch die Bürgen von den Politikern in der Ohnmacht der Covid-19-Wirkungen einen festen Halt. In Gefahren sind Politiker wichtig, die Entscheidungen fällen können und die Konse- quenzen für diese auf sich nehmen. Man wird erst hinterher wissen, was das Richtige ge- wesen wäre. Sie ertragen es also, scheitern zu können. Aber ihre Entschiedenheit gibt Halt und Rahmen, die den Bürgern die gewünschte Offenheit für ihre eigenen Alltagsprozesse erst ermöglichen. Schwankende Politiker, die es allen recht machen wollen, verstärken die Ohnmacht bei den Bürgern. Das Prinzip der klaren Entscheidung verkörpern Kurz, Söder und Merkel (dieses Mal), die wenig öffentlich überlegen, aber klar etwas Entschiedenes setzen und dafür die Verantwor- tung übernehmen, auch dafür, dass es vielleicht anders besser gewesen wäre. Laschet will selbst die Offenheit sein. Seine Öffnung – symbolisch manifestiert in der Belie- bigkeit, mit der Abschluß-Schüler teilnehmen können oder nicht – ist von Unentschiedenheit geprägt, welche die Verantwortung an Schüler und Schulen (Umsetzung der Hygiene) dele- giert. Das stärkt aber nicht die Offenheit und Experimentierlust bei der Bevölkerung, sondern das Gegenteil. Bei der Kita-Öffnung haben aber alle Politiker vergessen, einen Rahmen zu setzen. In Inter- views erfahren wir die große Verzweiflung der Mütter, dass es für Kitas weder Plan noch Um- setzungsideen gibt. Hier könnte sich Laschet noch positiv profilieren.

Aktuelles SPIEGEL-Interview mit Stephan Grünewald

Der Ministerpräsident von NRW Armin Laschet hat ihn in seinen Expertenrat berufen, um Strategien für die Zeit nach der Corona-Krise zu erarbeiten. Nun führte Nils Minkmar vom SPIEGEL mit Stephan Grünewald ein Interview zur aktuellen Situation. Das Interview kann als Video unter diesem Link angesehen werden.

Einige Gedanken zur Wirkungseinheit „Corona“

ein Beitrag von Werner Pohlmann Die erneute Lektüre des Romans „Die Pest“ von Albert Camus hat mir deutlich gemacht, dass wir das Geschehen, das „Corona-Krise“ genannt wird, nur in seinen Ausmaßen und Wirkungen verstehen können, wenn wir es als Wirkungseinheit begreifen. Die Bezeichnung „Corona-Krise“ lässt die Frage aufkommen, was denn hier durch einen nahezu unsichtbaren Virus in eine Krise geraten ist. So beginnt der Roman mit der Schilderung des Lebens in der ganz gewöhnlichen Stadt Oran an der algerischen Küste, „ein farblos-nüchterner Ort!“. Das Leben in dieser Stadt, das Arbeiten, Lieben, Sterben geschieht „ohne innere Anteilnahme“, d.h. man langweilt sich und ist bemüht, „Gewohnheiten anzunehmen“ und kann dadurch die Tage „mühelos verbringen“ bis am Morgen des 16. April der Arzt Dr. Rieux aus dem Haus geht und über eine tote Ratte stolpert, die dort nicht hingehört. Im gewohnten und gewöhnlichen Ablauf, morgens aus dem Haus und zur Arbeit zu gehen, verbirgt sich zugleich auch etwas Ungewöhnliches, das verborgen und doch offenbar immer schon da war und bleibt, wie es am Schluss der Pest heißt, dass nämlich unsere fröhliche Lebendigkeit ständig bedroht ist, weil der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, dass er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet, und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und der Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben“. Die Pest oder die Corona-Epidemie ist eine Gestalt, die alles in ihrem Sinne vereinheitlicht, die eine eigene Ordnung des gesellschaftlichen Lebens schafft, so dass mit der Zeit kaum mehr vorstellbar ist, „welch innige Vertrautheit die Menschen einst besessen und wie ein Mensch mit ihnen hatte leben können, der sich jederzeit in greifbarer Nähe befand“. Das Leben wird auf einmal bestimmt vom Diktat der Virologen, gegen das sich die „Wirtschaftsweisen“ stellen und die Politik muss Entscheidungen treffen, die Sicherheit versprechen sollen, wo es offenbar keine gibt. Im Glauben, das Leben anhalten und still stellen zu können, werden Ausbreitungstendenzen, für die das Virus steht, zu verhindern gesucht. Das Virus macht uns auf Ausbreitungstendenzen aufmerksam, die unser Leben im Bild der Globalisierung schon lange bestimmen. So wie der Virus keine Grenzen kennt, so kannte auch das Getriebe der Globalisierung keine Grenzen, wie es Daniel Salber dargestellt hat. Paradox ist dabei, dass gerade die Ausbreitung des Virus uns zwingt, wieder Grenzen zu ziehen, Abstand zu halten und Überlegungen anzustellen, wie wir unsere Wirklichkeit anders ordnen können. Im Augenblick ist unser Leben aber dadurch bestimmt, was uns Halt und Orientierung gibt, so dass die Sehnsucht nach einer starken Hand verständlich wird. Politiker, die diese Sehnsucht befriedigen, steigen in ihrer Popularität, aber zugleich regt sich auch ein Widerstand gegen solche Diktate. Wie kann man sich auch der Gefangenschaft des Virus-Diktats wieder befreien? Die Frage, welche Lockerungen des Stillhaltens möglich sind, ist die Frage nach den Umbildungsmöglichkeiten einer epidemischen Verfassung. Geht es weiter so im Sinne einer globalisierenden Ausbreitung oder berücksichtigen wir andere Wirkungsqualitäten, z.B. die Anerkennung der Grenzen unseres Planeten, den wir nicht mehr grenzenlos ausbeuten können, oder: wie können wir unser Leben anders ordnen, worauf im Augenblick die Problematik unseres Gesundheitssystems uns aufmerksam macht. Nur wenn wir das Räderwerk des ganz seelischen Betriebs in den Blick nehmen, gelingt es uns vielleicht, das uns ein neues Verwandlungsbild bewegt als das gegenwärtige einer Pandemie.

In Fulda arbeitet das WSG-Mitglied Joachim Enders als Psychotherapeut. Herr Enders wurde von einem Lokal-Magazin am 28. März 2020 zu den psychologischen Begleitumständen der Corona-Krise befragt. Wir geben das Interview in einer gekürzten Fassung wieder.

Was macht die Coronakrise mit uns Menschen? – Psychologe gibt Antworten

1. Kann die Corona-Krise auch als Chance aufgefasst werden – für den Einzelnen und die Gemeinschaft? Die Corona-Krise kann auch als eine Chance aufgefasst werden, indem Initiativen und Hilfsbemühungen entstehen aufgrund der sichtbar gewordenen Notlage oder Bedrohungssituation, in der sich alle befinden. Für die Gemeinschaft ändert sich der Blick auf diejenigen, die in der jetzigen Krise beruflich gefordert sind und an ihre Leistungsgrenzen gehen, Mediziner, Pflegekräfte in Krankenhäusern und Pflegeheimen, aber auch Verkäufer und Verkäuferinnen in den Märkten, die mehr arbeiten und einem höheren Risiko der Infektion ausgesetzt sind. Die persönlichen Kontakte werden durch den Entzug der unmittelbaren Begegnung ggf. in ihrer Wichtigkeit und Bedeutsamkeit nochmal verstärkt wahrgenommen und gewürdigt. Indem das Selbstverständliche fehlt, verliert es die Selbstverständlichkeit und wird bedeutsam. Man kann es für einen Vorteil halten oder nicht, dass in der gegenwärtigen Lage die digitale Kommunikation in ihrer Bedeutung ebenfalls herausgerückt ist. Ohne Internetverbindung wären viele noch verbleibenden Kontakte nicht möglich und das Problem des Kontaktentzugs würde sich noch drastischer und zugespitzter stellen. 2. Was bedeutet eine mögliche Isolation wie Quarantäne aus psychologischer Sicht? Hier zeigen sich ggf. gesellschaftliche Unterschiede: wenn ich ein Eigenheim habe mit Garten und genügend Bewegungsfreiheit auch im Haus, habe ich eine andere Voraussetzung als jemand, der in einer 2- oder 3-Zimmerwohnung mit seiner Familie lebt und ggf. keinen Balkon hat. Jedenfalls kann es durch das verdichtete Zusammenleben ohne klare Perspektive, wann die Lage wieder freier wird, auch zu einer deutlichen Zunahme und Zuspitzung von Beziehungskonflikten kommen. Es ist im normalen familiären Leben bedeutsam, dass jedes Mitglied über entlastende Ausweichmöglichkeiten verfügt. So ist der Schulbesuch und das Treffen mit Freunden durchaus auch von sozialer Bedeutung im Sinne einer Entlastung familiärer Dichte. Gerade in Zeiten der Pubertät ist die Peer-Group anderer Jugendlicher der wesentliche Bezugsrahmen und weit bedeutsamer als die Familie, die hier ja in dieser Zeit eher Raum für die typischen pubertären Konflikte ist, die nun in Quarantäne und Isolation heftiger werden können. Auch der Austausch in Gruppen von Müttern kleinerer Kinder stellt eine wichtige psychische Entlastung dar, die nun nicht mehr genutzt werden kann. Es verbleiben dann auch hier Belastungen. Eine wieder andere Situation haben alleinstehende Menschen Bei ihnen können sich verstärkt depressive Verfassungen entwickeln. Da es sich oft auch um ältere Menschen handelt, stehen ihnen technische Hilfsmittel zur Kontakterhaltung oft nicht ausreichend zur Verfügung. 3. Der Mensch ist ein Herdentier. Wie reagieren wir auf die verordnete Kontaktsperre? Auf ‘Verordnungen’ reagieren Menschen durchaus unterschiedlich. Es gibt fügsamere oder mehr revoltierende Charaktere, es gibt Menschen, die eher damit leben können, wenn Autoritäten etwas anordnen, was verhindernd und einschränkend ist. Hier kann die medial sehr gestützte und politisch geförderte Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen helfen und entlasten. Es gibt durchaus Menschen, denen eine verordnete ‘Klausur’ entgegenkommt und die dem Positives abgewinnen können. Das setzt voraus, dass man sich mit sich selbst und seinen Gegebenheiten ausreichend gut beschäftigen und sich selbst ausreichend gut aushalten kann. Entscheidend ist natürlich die Dauer des Ganzen und wichtig die Erfahrung, dass jede eventuelle Verlängerung zumindest ausreichend diskutiert wird und begründet erscheint. Wer Glück hat, hat ein gut nutzbares Hobby entwickelt, das in Zeiten der Kontaktsperre gut im Haus, in der Wohnung und ohne den Kontakt zu anderen betrieben werden kann. Das kann sein Modellbau, Modellbahn, Literatur oder Werkstattarbeit, wofür man wieder die räumlichen und finanziellen Voraussetzungen braucht. 4. Ist das „Hamstern“ psychologisch nachvollziehbar? Hamstern ist jedenfalls eine nachvollziehbare Reaktion auf drohenden Verlust von Versorgung und ein Bewältigungsversuch der im Hintergrund stehenden Ängste vor weitgehender Verletzung oder gar Vernichtung der bisherigen Lebensform, hier durch das Virus. Damit einher geht ein Verlust der Fähigkeit, an andere zu denken und anderen etwa übrig zu lassen, da das eigene Gefühl der Bedrohung einen ‘Lebensrettungsmodus’ aktiviert, der natürlich sehr auf sich selbst bzw. die eigene Familie bezogen ist. Es handelt sich hier in der Regel um eine unbewusste Angst, die aber gerade deshalb starke Handlungsimpulse freisetzt. 5. Wie werden wir uns NACH Corona verändert haben? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten aus meiner Sicht: – Möglich ist ein stärkerer Gemeinschaftssinn, ein stärkeres Gefühl für Solidarität und wechselseitige Abhängigkeit entstanden. Das bedeutete eine qualitative Verbesserung des Gemeinschaftssinns und des Verantwortungsgefühls. Beziehungen könnten trotz oder wegen der Trennungen und Entbehrungen verbessert sein, indem man stärker und empathischer aufeinander achtet und den anderen mehr wertschätzt. – Vielleicht, und das wäre auch eine positive Variante, würde es ein anderes Bewusstsein für die Klimafrage geben, indem deutlich würde, dass man nicht auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs sein muss oder sich ständig in Flugzeugen bewegen. Hier wäre Vorsicht statt Angst ein wichtiger Ratgeber, da viele berufene Menschen die jetzt in den Hintergrund gerückte Klimafrage als ein bedeutend größeres Problem einschätzen. – eine deutlich negative Entwicklungsvariante ist der von vielen vorhergesagte Verlust und Konkurs zahlreicher, auch gerade kleinerer Unternehmen (Cafés, Buchläden, Gaststätten, Blumenläden, Bekleidungsgeschäfte) oder auch größerer Firmen und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit. Ebenfalls problematisch in dieser Zeit ist gerade für eher prekäre Lebensverhältnisse der Verlust von benötigtem Verdienst u.a. bei Kurzarbeit. Nach Corona könnten auch entgegen der Hoffnung auf verstärkten Zusammenhalt Auseinandersetzungen um die verbleibenden Ressourcen und Arbeitsplätze beginnen, ‘Verteilungskämpfe’, wenn man das Wort mal nutzen will. – Es wird eine ganze Zeit dauern, bis das Leben in zahlreichen auf ‘Stand-By’ gesetzten Belangen wieder in alte Rhythmen und Abläufe kommt. Alleine die abgesagten und verschobenen Sportwettkämpfe müssen Raum und Zeit finden. Hier werden sich auch ggf. Konflikte und Konkurrenzen im Wettbewerb um freie Zeiten etc. ergeben, bspw. für die Olympischen Spiele, die wahrscheinlich auch verschoben werden müssen. – Jedenfalls wird ein Bewusstsein dafür entstanden sein, dass kein Nationalstaat heutige Probleme alleine lösen kann, sondern nur in Zusammenarbeit und Austausch von Kenntnissen, Erfahrungen und wissenschaftlichem Knowhow. – Denkbar wäre auch, dass dem Beispiel vermögender Menschen zur finanziellen Unterstützung von Projekten und Initiativen andere folgen, dass also die Teilung gesellschaftlicher Ressourcen statt die ‘hamsternde’ Inbesitznahme Schule macht.

Gesellschaftlicher „Shut Down“ und die „Einübung“ des seelischen Geschehens

ein Beitrag von Dirk Blothner Vor den Bewegungseinschränkungen, die Mitte März 2020 von staatlichen Institutionen angeordnet wurden, konnten die Menschen über die Räume der Welt, über die Nähe zu anderen Menschen und über unterschiedlichste Gegenstände und Materialien ihre Stundenwelten ausgestalten. Die Vielfalt dieser Anhaltspunkte für das Seelische ist seitdem eingeschränkt. Beim Blick aus dem Fenster sind kaum Bewegungen, nur wenige andere zu entdecken. Bei der Fahrt oder dem Gang durch die Stadt begegnet man einer fast sonntäglichen Ruhe und Leere. Das andere in Form von Menschen, Gerüchen, Ausblicken und Gegenständen, das die Psyche so sehr braucht und liebt, ist zunächst einmal auf die vertrauten Gestaltanreize begrenzt. Wendungen der Handlungseinheit über die Bewegung im Raum, über Begegnungen können nur wenig ausgekostet werden. Der Alltag konzentriert sich auf den häuslichen Raum – glücklich, wer einen Garten hat. Wenn man dagegenhält, dass die Welt heute über das Internet und die vielen Medienströme in gewisser Weise zugänglich ist und dem Seelischen einen unendlichen Strom der Gestaltung anbietet, sieht die Lage zunächst nicht viel anders aus. Denn Medien stellen einen unwillkürlich anziehenden, monothematischen Strom bereit, der die bedrückende, allgemeine Lage spiegelt und damit intensiviert. Die oben angesprochenen Wendungen werden durch Schreckensbotschaften und ansteigende Fallkurven angestoßen. Nur selten wird ein Anlass gefunden, sich auf etwas völlig anderes einzulassen. Wenn das doch einmal gelingt und sich das Seelische für eine Stunde in ein Werk der Literatur oder der Musik verwandeln kann, ist die damit erschlossene Weite und lebendige Komplexität wohltuend erfahrbar. In solchen Werken kann sich die Psyche die Beweglichkeit und damit Lebendigkeit zurückholen, die sie über den Shutdown des öffentlichen Lebens eingebüßt hat. Morphologen können an diesen Phänomenen die Verschränkung des Seelischen mit der Wirklichkeit beobachten, die Wilhelm Salber 1965 unter dem Stichwort „Einübung“ und dem Verhältnis von Verwirklichung und Anverwandlung beschrieb. Die gegenständliche Welt, die Kultur stehen demnach dem menschlichen Seelenleben nicht nur als Wahrnehmungsobjekt gegenüber. Sie machen es unmittelbar zu dem was es ist. In ihrem Material, an ihren Formangeboten kommt die Psyche dazu, sich selbst als etwas Wirkliches zu erfahren. Auf der anderen Seite stehen die Gestaltungszüge der anderen “Bedingungen” bereit, diese Verwirklichungen anzuverwandeln. Das bedeutet, sie durchformen sie und weisen ihnen einen Platz im Ganzen zu. Solche Prozesse sind mit „Einübung“ gemeint. Es ist hilfreich, sich diese Zusammenhänge deutlich zu machen. Denn so wird verständlich, wie wichtig es auch in diesen Wochen ist, dem eigenen Seelenleben einen Austausch mit Anderem zu ermöglichen. Um die Wirklichkeit ein wenig zurückzuholen und deren Erfahrung zu intensivieren, empfiehlt es sich zum Beispiel, jeden Tag mit Ruhe und Konzentration ein Mahl zu bereiten. Besteht eine allgemeine Deprivation von Welt, kann man sich doch auf das Material von Gemüse, Kartoffeln, Fleisch, Gewürzen umso intensiver einlassen und diese über eigene Tätigkeiten in ein schmackhaftes Essen verwandeln. Man nimmt unmittelbar an einer sinnlichen Entwicklung teil, wird in gewisser Weise zu ihr. Oder man nimmt sich einen Roman zur Hand, von dem man weiß, dass er einem schon einmal Trost spendete, weil sich bei der Lektüre eine dynamische Welt eröffnete. Mit Zeit und Muße können deren Chancen und Begrenzungen noch einmal ausgekostet werden. Wer Klassische Musik mag, dem bieten die Berliner Philharmoniker in diesem Wochen einen freien Zugang zu ihrem Konzertarchiv an. Auf der Seite https://www.digitalconcerthall.com/de/home kann man ältere, aber auch die jüngsten Konzertaufzeichnungen in hervorragender Qualität sehen und hören. Ich empfehle das Sylvester-Konzert mit der Sopranistin Diana Damrau. Es ist in diesen Tagen fast unwirklich, zu welch einer tragikomischen Lebensfreude sich die Musiker unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko mit diesen kurzen Stücken des 20. Jahrhunderts (Gershwin, Bernstein, Weil u.a.) aufschwingen. Jeder kann sich über die neuen Medien solche oder andere Stundenwelten in den Kreis der häuslichen Einschränkung hereinholen. Es empfiehlt sich, die Strukturierungen, in denen sich Einübungsprozesse vollziehen dabei aufzugreifen und zu nutzen. Nehmen wir das Verhältnis von Verwirklichung und Anverwandlung ernst, bietet es sich an, Medienstunden immer mal wieder zu unterbrechen und die Gestalten, die sich haben verwirklichen können, ausklingen, abschmecken zu lassen und ihnen einen Platz im Ganzen einzuräumen. Nach einem Spielfilm kann man eine Pause machen, ergänzenden Gedanken nachhängen oder mit einem anderen das Gespräch darüber suchen. Bringt man sich mit einer der vielen Streaming-Serien durch den Tag, kann es wohltuend sein, nach jeder Folge eine Pause zu machen und das Erlebte erst einmal zu verdauen. Mitgehen mit den sich verwirklichenden Szenenfolgen auf der einen und deren aktives Zu-Eigen-Machen auf der anderen Seite können aus einem Serien-Tag ein den Alltag vertiefendes Erlebnis machen. Überlässt es alles den Verwirklichungsprozessen, gerät das Seelische in den Sog ungebrochener Tagträume hinein. Man erlebt Verwandlungen, der Alltag hat aber nichts davon. Ähnlich lässt sich mit Musik und Lektüre verfahren. Die Psyche ist in der Auffassung der Psychologischen Morphologie ein Wirkungszusammenhang zwischen Gestalten und Gestaltet-Werden. Ohne aktives, umsichtiges Tun nimmt ein Automatismus von Gestaltungsmechanismen die Führung. Es kommt darauf an, die verhältnisartigen Strukturen des Seelischen immer mal wieder bewusst zu handhaben. Dann hat man mehr von den Tagen der Corona-Zeit.

Ein Kommentar von Simone Mones

“Ich kann von einem gelungenen Corona-Fastentag berichten: gestern habe ich einfach ganztags davon abgesehen, auf irgendwelche Meldungen aus irgendwelchen Medien zuzugreifen. Der Vortrag von Prof. Heubach kam mir dabei sehr zugute (der Hinweis auf den eigenen Daumen!). Die eigene Verfassung kann (durch fernhalten von allen Übertragungen;-) gut an allem arbeiten, hin- und herdrehen, aus verschiedenen Perspektiven betrachten und Neues über sich erfahren, wobei Aufschreiben – eigenes Beschreiben – wirklich sehr zuträglich ist. Wie gut, dass es mal richtig geübt wurde ;-)”

Wie das Virus die globale Kultur infiziert

ein Beitrag von Dirk Ziems Schleichende Bedrohungsgefühle, Hamsterkäufe, Schockstarre – die psychologischen Effekte der weltweiten Corona-Virus-Pandemie reißen die globale Konsumkultur in eine Krise. Dirk Ziems vom Institut concept m hat die Erfahrungen mit der Krise zusammengefasst und fünf zu erwartende Phasen der Bewältigung aufgestellt. Phase 1: Inkubation – zwischen Erregung und Bagatellisierung Im Erleben der Menschen hat die Corona-Krise als weit entferntes Medienthema angefangen. Befragt nach Schlüsselbildern berichten chinesische Interviewpartner über die Momentaufnahmen der Flüchtenden aus Wuhan, die die Bahnhöfe okkupieren. Interviewpartner aus den drei westlichen Ländern schildern uns von schwer einzuordnenden Bildern von chinesischen Krankenpflegern in Ganzkörperschutzanzügen, die an Astronauten in einem Raumschiff erinnern. Die Bilder zeigen, dass da etwas Gefährliches außer Kontrolle geraten ist, dessen Tragweite man gleichzeitig aber nicht verstehen kann. Auch die Tonspur zu den Medienbildern, die Rede von gefährlichen Viren, Analogie zu früheren SARS-Epidemie-Ausbrüchen bleiben abstrakt. In der folgenden psychologischen Inkubationszeit schwanken die Menschen zwischen Erregung, die immer auch wieder in das Muster einer typisch aufgebauschten Medienhysterie fällt, und Bagatellisierung, die den Eindruck von Gefahr abwehrt und herunterspielt. In den Gesprächen stoßen diese Standpunkte aufeinander. „Da braut sich etwas zusammen, es wird alles viel zu leichtgenommen“ vs. „alles aufgebauscht und heillos übertrieben“. Die Unfassbarkeit des Virus, seine Eigenheit, infektiös zu sein ohne sichtbare Krankheitszeichen, seine schleichende Verbreitung, führen zur Ausbildung einer gespaltenen, fundamental verunsicherten Wahrnehmung: die Gefahr ist weit weg und gleichzeitig schon mitten unter uns. Man beruhigt sich mit dem Gedanken, der Virus ist nur eine besondere Art der Grippe, und gleichzeitig ahnt man, vielleicht hat das eine ganz neue Dimension. Der schwelende Zustand der Inkubation nimmt immer mehr Raum ein in den Medien, in den Gesprächen untereinander, in den Social Media, in den eigenem Gedanken. Phase 2: Panik und Agieren Die schwelende Unruhe geht in Anflüge von Panik über, wenn erste Fälle das direkte lokale Umfeld erreichen. In China stiegen Anfang bis Mitte Februar die Fallzahlen in allen Provinzen, in Italien tauchten die ersten Cluster Ende Februar auf. Nachdem in Deutschland die ersten Einzelfälle glimpflich verliefen, kam der Ausbruch im Rheinland verbunden mit der Phantasie, dass die Betroffenen die Viren im Karnevalstrubel unkontrollierbar verbreitet haben. In den USA gilt ab dem 12. März ein Einreiseverbot für alle europäischen Bürger außer UK. Der Umgang mit der latenten Panik unterscheidet sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Manche Menschen agieren ihre Panik sehr stark aus, bisweilen bis zu einer Paranoia. Sie entwickeln Putz-, Desinfektions- und Waschzwänge, die den erlebten Kontrollverlust neu unter Kontrolle zu bringen versucht. Sie sehen in jedem Kontakt mit anderen Menschen eine potenzielle Lebensgefahr und ziehen sich zurück. Sie versuchen ihre Angst mit Hamsterkäufen und vorbeugendem „Prepper“-Verhalten zu bannen. Interessant ist, was in den einzelnen Ländern gehamstert wird. In China sind es Atemmasken, weil man sich in den verdichteten Megastädten schützen will. In Deutschland sind es Toilettenpapier und Desinfektionsmittel, dem ordnungsliebenden Charakter der Deutschen folgend. In Italien werden bevorzugt Lebensmittel gebunkert und in USA denkt man an Benzinvorräte und Waffen, die man für den Ernstfall parat haben sollte. Eine naheliegende Bearbeitungsform ist es auch, die Panik vor Krankheit und Tod auf die Panik vor wirtschaftlichem Ruin zu verschieben. Hiobsbotschaften über die generelle wirtschaftliche Rezession, Nachrichten vom Ausfall ganzer Wirtschaftszweige (Lieferkettenprobleme in Deutschland, Ausfall des Tourismus in Italien) und Kurzschlussreaktionen an den Börsen sind die Zeichen, an denen sich die Panik festmachen lässt. Schließlich kann die manifestierende Verdrängung und Verleugnung eine Reaktion auf die latente Panik sein. Den Ernst der Lage in stiller Duldsamkeit aussitzen und der Dinge harren, die da kommen, entspricht einem tief verankerten chinesischem Mentalitätsmuster. Fakten durch alternative Thesen zu relativieren und die Konfrontation mit der Realität zu umgehen, entspricht dem derzeitigen Diskursmuster der politisch tief gespaltenen amerikanischen Kultur, die noch nicht einmal dem WHO-Testverfahren für den Corona-Virus folgt, nun aber mit dem Finger auf Europa zeigt und die Einreisen begrenzt. Phase 3: Isolation und Depression Das letzte Mittel gegen die komplett unkontrollierte Ausbreitung des Virus ist die soziale Distanzierung. Es gelingt, die Infektion zumindest zu verlangsamen, wenn Einzelne bzw. Familien konsequent zu Hause bleiben und sich gewissermaßen selbst in Schutzhaft nehmen. Seit Anfang März sind die Italiener landesweit dazu aufgefordert, das Haus möglichst nicht mehr zu verlassen. In China wird die Isolation durch den Staat gezielt mit digitaler Überwachungstechnologie organisiert, etwa mit Chip-Karten, die für den Zugang zu und Ausgang aus Apartment-Blocks erforderlich sind. In den Interviews zeigen sich gemischte Reaktionen auf die staatlich angeordnete Isolation. Die häusliche Isolation wird als Übergang in den manifesten Krisen- und Kriegszustand erlebt. Man geht gewissermaßen in den Bunker und wartet ab, bis der Sturm bzw. Angriff vorbei ist. Mit dem Rückzug ergreift man endlich konsequente Maßnahmen und kommt aus dem Panik-Modus heraus. Zugleich berichten die chinesischen und italienischen Testpersonen, dass die soziale Isolation stark belastend ist. Denn China und Italien sind sehr auf die erweiterte Familie und die soziale Gruppe ausgerichtete Kulturen. Den Rückhalt durch die Familie zu verlieren und auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, erzeugt bzw. steigert Gefühle der Hilflosigkeit und Depression. Das wird dadurch verstärkt, dass die Gesamtlage unbestimmt und die Zukunftsaussichten unsicher sind. Ob man jemals zurück zum normalen Leben finden wird, erscheint ungewiss. Von der Welt draußen hört man, dass Messehallen zu Lazaretten umfunktioniert werden (so in Mailand) oder dass normalerweise verstopfte Ausfallstraßen menschenleer bleiben (so in Peking). Phase 4: Neubesinnung Zugleich bietet die unfreiwillige Auszeit vom bisherigen sozialen Alltagsbetrieb neue Freiräume und Spielräume. Die Interviewpartner berichten davon, wie wohltuend die Ruhe und Entschleunigung in den eigenen vier Wänden ist. Familien rücken enger zusammen und stellen fest, dass man das erste Mal seit Jahren wieder „tiefe Gespräche“ führt. Aus China wird berichtet, dass man in der erzwungenen Home-Office-Situation erstmals eine neue Selbstständigkeit gegenüber seinem Arbeitgeber einübt. Während man bislang im Großraumoffice daran gewöhnt ist, dass der Chef alle halbe Stunde über die Schulter guckt, übernimmt man jetzt die Verantwortung für den eigenen Arbeitsfortschritt. In lahm gelegten Kleinunternehmen, die von der einsetzenden Corona-Rezession betroffen sind, nutzt man die Zwangspause für liegengebliebene Inventuren oder das Überdenken der eigenen Geschäftsstrategie. Phase 5: Erholung und Normalisierung Bisher ist nur in China die Phase der Wiederherstellung erreicht. Nach dem Rückgang der Fallzahlen und der gelungenen Eindämmung der Pandemie kehren die Menschen auf die Straßen zurück und nehmen am Alltagsaustausch wieder teil. Die Menschen treffen sich wieder zum Schwätzchen auf dem Hinterhof, halten dabei jetzt aber einen Sicherheitsabstand und tragen weiterhin Atemschutzmasken. Die Wiederherstellung des normalen Betriebs geht nicht reibungslos vonstatten. Geschäftsverbindungen sind unterbrochen, im Lehrstoff der Schule klaffen Lücken, die Versorgung mit Gütern ist noch nicht auf dem alten Stand. Dennoch herrscht in China aktuell Erleichterung. Das Schlimmste scheint überwunden zu sein. Der Rückweg zur Normalität ist frei.

Hamsterkäufe sind psychologisch sinnvoll

ein Beitrag von Susanne Wiesmann Seit Wochen werden Menschen erst belächelt, dann ermahnt, nun als unsozial gebrandmarkt, wenn sie Hamsterkäufe tätigen. Psychologisch sind Hamsterkäufe jedoch eine seelische Armierung gegen eine Krise, gegen die man bis auf Händewaschen und Abstand-Halten nichts tun kann. Hamsterkäufe dagegen: 1. … bestärken die eigene Vitalität 2. … sind der erste Schritt zur Einsicht in die Krise 3. … sind psychologische Immunisierung 1. Hamsterkäufe bestärken die eigene Vitalität Psychologisch ist das Einkaufen eine vitale Tätigkeit. Es erfordert Geld, Kraft und Durchsetzungskraft, Regale und Truhen zu füllen. Die geistige Kompetenz allerdings wird Hamsterern abgesprochen, da sie viel Klopapier kaufen. Psychologisch bedeutet der Kauf von Klopapier jedoch, dass man die Krise meistern und auch zukünftig viel zu beißen und zu sch… haben wird, denn psychoanalytisch ist Kot eine Vorform des Geldes. Zudem stellt die Ausscheidung die Frage, ob man eine Situation beherrschen kann. (S. Freud ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‘; ‚Charakter und Analerotik‘) Fazit: Hamsterkäufe und grade die von Klopapier, vergewissern den Kaufenden, dass sie für die Krise mental, körperlich und finanziell gewappnet sind und diese durchstehen können. 2. Hamsterkäufe sind der erste Schritt zur Einsicht in die Krise Angesichts einer Krise, deren Ausmaße niemand kennt und deren Konsequenzen für das berufliche und private Leben niemand kalkulieren kann, sind Hamsterkäufe ein Versuch, einen Umgang mit der Krise zu finden. Nur auf Händewaschen und Distanz-Halten verwiesen, steht man der Krise wehrlos gegenüber. Der Feind ist zudem unsichtbar und kann gerade durch die Liebsten übertragen werden. Psychologisch ist es unmöglich, nichts zu tun, es sei denn, man verfiele in eine lähmende Angst. Die Hamsterkäufe machen die Krise begreifbar, indem man da zupackt, wo man etwas tun kann und sich – im ersten Schritt – darauf einstellt, dass in den nächsten Wochen – oder länger? – vieles nicht so sein wird wie bisher. Hamsterkäufe zeigen: ‚Du musst deine Routine verlassen!‘ Fazit: Der Hamsterkauf behandelt die Krise statt ohnmächtig abzuwarten. Er ist eine Übung für das Leben mit Corona und vor allem für dessen Konsequenzen. 3. Hamsterkäufe sind psychologische Immunisierung Es gibt keinen Impfstoff und keine Medikamente gegen Covid-19. Man kann daran sterben. Die Folgen der Krise gehen weit über die Frage hinaus, wie man Wochen in der Isolation verbringen kann. Die Menschen ahnen, dass es um viel mehr geht. Die Kanzlerin sagte, dass seit dem Ende des 2. Weltkriegs solch eine Lage nicht dagewesen sei. Das bedeutet auch, dass niemand außer den Hochbetagten weiß, wovon Frau Merkel spricht. In den letzten Jahrzehnten wurde jede Not staatlich abgefedert. Der Bezug zum Krieg (Macron ‚Wir sind im Krieg‘) zeigt, dass etwas Unkalkulierbares auf uns zu kommt, bei dem vielleicht der Staat nicht mehr helfen kann. Wir wissen es nicht. Hamsterkäufe sind eine seelische Impfung, die einen Ausbruch der wirtschaftlichen Folgeerkrankung von Covid-19 verhindern soll. Indem man moralische Appelle ignoriert, macht man sich klar, worauf man in einer Krise bauen kann: auf die eigenen Ideen, Stärken und Maßnahmen. Mit dem Hamsterkauf nimmt man den Kampf mit den größere Probleme der Krise auf. Allerdings gelingt deren Bewältigung nur, wenn man das Hamstern wieder eingestellt und nun tatsächlich andere Dinge anpackt. Fazit: Hamsterkäufe immunisieren gegen den Krisen-Kollaps, indem er das eigene Denken- und Handeln-Müssen stärkt. Er ist keine ‚Herdenmaßnahme‘, sondern psychologisch das Gegenteil. Allerdings wirkt die Immunisierung nur, wenn nach dem Hamstern andere Umgangsformen für die nun anstehenden Themen entwickelt werden

Mit Grimm’schen Märchen die Corona-Krise verstehen?

ein Beitrag von Dirk Blothner In einer anders-Kolumne von 2015 zog Wilhelm Salber das Grimm’sche Märchen „Das Meerhäschen“ heran, um den scheinbar ausweglosen Stillstand, in den sich die Auskuppelkultur hineinmanövriert hat, in ein Bild zu rücken. Der Palast mit den zwölf kristallklaren Fenstern, durch die hindurch eine von vernichtender Kontrolle besessene Prinzessin nach jungen Männern Ausschau hält, die ihrer Lebensordnung einen Anstoß zum Anderswerden geben könnten, fasst diese verkehrte Lage zusammen. Damit alles so weitergehen kann wie bisher, haben es sich die Menschen in einem „Babeltum des Übermenschen“ eingerichtet: von allen Seiten wird an einem abstrakten Wachstum gebaut, wird durch hektische Betriebsamkeit jeden Tag aufs Neue bewiesen, dass dessen Indikatoren noch immer ansteigen. Für auf Entwicklung drängende Unruhen und Fragen gibt es ein Netz von Regeln der Einordnung und Eindämmung. Die Menschen haben es als eine kaum hinterfragte „Korrektheit“ verinnerlicht. Damit der Fluss des Seelischen dennoch in Bewegung bleibt, wird gleichzeitig ein großes Angebot an Unterhaltungsprogrammen, Events und anderen „Duselzuständen“ bereitgestellt. Ein aufeinander abgestimmtes Ineinandergreifen von „Gebieten und Anbieten“ hat die Kultur auf diese Weise fest im Griff. Der Zweck dieses Gefüges von Gebieten und Anbieten besteht im Selbsterhalt. Die Besitzstände, der vertraute status quo sollen nicht angetastet und die lieb gewonnenen Gewohnheiten nicht in Frage gestellt werden. Stimmen, die auf die letztlich lebensfeindliche Ausrichtung dieses unbewussten Systems hinweisen, werden nicht zugelassen und als Nichts und nichtig erklärt. In den Talkshows spiegelt sich das Ganze insofern, als die immer gleichen Trendmeinungen und Rechtfertigungen wiederholt werden und Beiträge von Gästen, die das Ganze gegen den Strich zu bürsten geeignet sind, niedergebrüllt oder einfach ignoriert werden. Das Ganze verstand Salber als eine apersonale, automatisierte Apparatur, die ihre ganze Anstrengung und Intelligenz darauf verlegt, den Planeten auch weiterhin auszurichten. Doch nun sind wir in die sogenannte „Corona-Krise“ geraten und alles ist überraschend anders. Eine Nichtigkeit, noch sehr viel kleiner als das Meerhäschen, das sich hinter dem Zopf der durch ihre Kristallfenster starrenden Märchen-Prinzessin versteckt hat, scheint dieses selbstverständlich gewordene Gefüge – zumindest vorübergehend – ins Wanken zu bringen: Covid – 19, ein viel genanntes, klitzekleines Corona-Virus. Vieles von dem, was vorher undenkbar war, was im Eilverfahren zu einem Nichts, zur Unmöglichkeit erklärt wurde, ist nun doch passiert: der wolkenlose Himmel wird nicht mehr von den Kondensstreifen der Flugzeuge durchkreuzt, die für unzähmbar gehaltene Reiselust treibt die Menschen nicht mehr um. Die Straßen in den Städten brummen nicht mehr vor Autos, die unbedingt wichtige Ziele erreichen müssen. Die überfüllten, brodelnden Partys und Feiern, die wie ein letzter Angelpunkt jugendlicher Freiheit erschienen, erfüllen nicht mehr die Nächte der niemals ruhenden Großstädte. Nach einigen notwendigen Anfangsschwierigkeiten, scheint die überwiegende Mehrheit der Menschen an einem Strang zu ziehen, gemeinsam einen Weg zu gehen. „Solidarität“, die vorher in abstrakten Aufrufen ihr Dasein fristete, bestimmt nun den Alltag von Millionen von Menschen. Überheblichkeiten, Unsterblichkeitsgehabe, gegenseitiges Heruntermachen sind eingedämmt und einer weitgehend als echt erlebten Sorge für andere, einem Bewusstsein für die Fragilität des Lebens gewichen. Die Minuten des Tages, die es vorher zwanghaft mit „wichtigen“ Aktivitäten und mit Zerstreuungen zu füllen galt, sind Augenblicken gewichen, in denen sich ein Ding aus sich heraus zu entwickeln vermag. Und sei es nur, dass jemand ein Ei in die Pfanne schlägt und versonnen beobachtet, wie sich das glibberige Material allmählich in ein appetitliches Frühstück verwandelt. In den Talkrunden wird Wissenschaftlern und Philosophen aufmerksam zugehört obwohl sie mit Unsicherheiten und weniger mit demonstriertem Fachwissen auftreten. Diese wohlwollende Aufmerksamkeit wurde Psychologen bisher nur selten zuteil. Politiker haben angesichts der Aufforderung, seine Liebe zum Nächsten durch Abstandswahrung unter Beweis zu stellen, das Paradox als Lösung entdeckt. Es scheint allgemein akzeptiert zu sein, dass es keinen sicheren Lohn bei Entscheidungsprozessen gibt und, dass unsere Wahrheiten sich schnell wandelnden Bildern gleichkommen. Niemand wollte, als sich die Kultur noch zu einem hochstrebenden Babel-Turm zusammenschloss, solche Dinge hören und schon gar nicht für wahr halten. Jetzt sind es keine Nichtigkeiten mehr. Sie werden als kreative Grundzüge der menschlichen Wirklichkeit verstanden, mit denen wir nicht nur leben müssen, sondern die uns dabei helfen auch in dieser aktuellen, in dieser Form noch nie dagewesenen Pandemie zu überleben. Auf dieser Website wollen wir diesen neu entdeckten „Nichtigkeiten“ einen Raum bereitstellen. Wir wollen im jetzt notwendigen medizinischen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kampf gegen das Corona-Virus auf die kleinen Dinge aufmerksam machen, für die es vor der Krise in der Öffentlichkeit weder Raum noch Aufmerksamkeit gab. Salber macht in seiner Interpretation des Märchens „Das Meerhäschen“ darauf aufmerksam, dass der Automatismus von Gebieten und Anbieten nur mit poetischer, kunstanaloger Aktivität, mit „Fuchsklugheit“ zu begegnen ist. Es sind diese überraschenden Einsichten, die in der Krise – und offenbar wohl nur in ihr – plötzlich Gehör erhalten. Wenn wir ihnen eine Art Sprachrohr sind, können wir vielleicht einige von ihnen auch über den vorübergehenden Ausnahmezustand hinaus am Leben erhalten und der Kultur als Anhalt zu einer Selbstreflektion bereitstellen.

Interview des Kölner Stadt Anzeiger mit Stephan Grünewald über die Auswirkungen der staatlichen Maßnahmen in der Corona-Krise

Herr Grünewald, als wir zuletzt miteinander sprachen, wiesen Sie darauf hin, dass eine vorsorgliche Quarantäne nicht nur als eine 14-tägige Gefangenschaft, sondern auch als eine urplötzliche Befreiung von den Zwängen des Alltags erlebt werden kann. War das zu idyllisch gedacht? Wir sind jetzt in eine neue Phase eingetreten. Wir sprechen nicht mehr über eine zweiwöchige individuelle Vorsorgemaßnahme, sondern darüber, dass wir jetzt alle auf unbestimmte Zeit in eine Art kollektiven Vorruhestand geschickt werden. Der vertraute Alltag bricht dramatisch weg. Alles macht dicht und wir werden aufgefordert, möglichst das Haus nicht zu verlassen. In dieser neuen Phase werden wir vielleicht ähnlich reagieren wie Rentner nach ihrem letzten Arbeitstag: Wir arbeiten erst einmal all das auf, was lange Zeit liegengeblieben ist: Akten sortieren, die Schränke aufräumen, den Wintergarten renovieren. Wie lange meinen Sie trägt diese Phase? Vielleicht zwei oder drei Wochen. Wenn alles abgearbeitet ist, treten wir in eine neue Phase ein, in der sich drei Strategien unterscheiden lassen. Die erste ist die Flucht in eine Tagtraumblase mit vielen Filmen oder einer Netflix-Serie nach der nächsten. Das schafft Ablenkung und vordergründige Erfüllung, führt aber auf Dauer zu größere Unruhe. Sie kennen das vielleicht, wenn Kinder und Jugendliche zu lange auf der Playstation oder im Internet gedaddelt haben. Sie reagieren dann total überreizt und kriegen Trotz- oder Wutanfälle. Wer nur noch in der Blase oder im Echoraum unterwegs ist, neigt dann auch zu Verschwörungstheorien. Also keine so vielversprechende Strategie… Vor den Folgen der ersten schützt die zweite Strategie: den verloren gegangenen Reichtum des Alltags wiederentdecken, indem wir wandern, basteln, gärtnern, spielen, lesen oder miteinander reden. Auf einmal bekommt der Satz „Weniger ist mehr“ neu Sinn. Gerade durch die Stilllegung, kann der Alltag eine neue Intensität gewinnen. Wenn darüber nicht diese Bedrohung namens Corona läge.

Diese Bedrohung wird den Alltag die nächsten Wochen überschatten. Aber sie birgt auch die Chance, das Leben wieder intensiver wahrzunehmen.

Denn nichts ist mehr selbstverständlich. Jeder kennt das, wenn man von einem Besuch bei einem Schwerkranken heimkommt: der vermeintlich graue Alltag hat dann auf einmal eine andere Tiefe und Farbe. Ja, es kann sein, dass wir uns mit Corona infizieren. Es kann sein, dass wir krank werden, vielleicht sogar liebe Menschen verlieren – aber wir gewinnen vielleicht neu die Empfindung für das Leben und für Werte, die sich mit der Zeit verflüchtigt hatten, weil wir irgendwie in einem Dauerparadieszustand waren. Welche Werte meinen Sie? Zum Beispiel, was es heißt, täglich eine warme Mahlzeit zu haben. Was es heißt, Zeit mit seinen Liebsten verbringen zu können. Strategie drei des Umgangs mit dem „kollektiven Vorruhestand“? Der Moment, in dem wir aus unserer besinnungslosen Betriebsamkeit herauskommen, setzt eine darunter verschüttete Kreativität frei. Wir sind ja auch das Land der Ideen, der Dichter und Querdenker. Kreativität ereignet sich aber nicht im Turbomodus des Hamsterrades, sondern in Besinnungspausen. Jetzt eröffnet sich die Chance aus der Zweckgebundenheit auszusteigen und uns auf uns selber zu besinnen. Das kann bestenfalls zu neuen Erkenntnissen und Ideen führen, wie wir leben und arbeiten wollen, und wie wir die Gesellschaft und die Wirtschaft umgestalten wollen. Wie solidarisch werden die Menschen in der Krise sein? In unseren Untersuchungen haben wir festgestellt: Nie war die Solidarität größer als während der Hochwasser-Katastrophen. Da war aber auch einen klar erkennbarer äußeren Feind gegen den man sich gemeinsam wehren konnte. Jetzt haben wir einen unsichtbaren Feind, der tendenziell schon in unseren Mitmenschen wohnen könnte und uns anstecken könnte. Das ist eine hoch ambivalente Situation, in der die Impulse der Solidarität und des Selbstschutzes miteinander im Widerstreit liegen. Wir werden sicherlich in den nächsten Monaten in menschliche Abgründe blicken, wir werden aber auch berührende Beispiele von Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft erleben. Und wie vermeidet man es, zwischen Altruismus und Egoismus zerrissen zu werden? Indem man eine Balance zwischen Anstand und Abstand findet. Auch bei der Frage, ob wir in den Familien einander noch besuchen sollen, weil die Alten ja besonders gefährdet sind. Virologisch gesehen, ist es sinnvoll, den Kontakt vorübergehend einzustellen. Psychologisch gesehen, brauchen wir gerade in bedrängenden Situationen die Nähe zu den anderen. Gerade für die Alten sind Kinder und Enkel im Alltagsgefüge ein wichtiger Teil des Lebens. Deshalb müssen wir uns auch in Corona-Zeiten fragen, wie wir ein Zusammensein gestalten, bei dem die Ansteckungsgefahr möglichst gering, der Kontakt untereinander aber erhalten bleibt. Vorrübergehend wohl über Telefon, Whatsapp oder Skype. Das Gespräch führte Joachim Frank

 

“Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten” – Interview von philomag.de mit dem Soziologen und Philosophen Hartmut Rosa über psychische und soziale Veränderungen im Rahmen der Corona-Krise

Der Soziologe und Philosoph Hartmut Rosa ist Autor des Buches “Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren)” (Residenz 2018) und hat einen Blick auf die zeitgenössische Kultur, der den morphologischen Leser interessieren dürfte. Der Professor an der Universität Jena befindet sich zurzeit in häuslicher Quarantäne und sieht sich dazu gezwungen, eine Reihe von anstehenden Vorträgen und Konferenzen abzusagen. Über diesen Link erreichen Sie das lesenswerte Interview mit Hartmut Rosa.

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