Auf der Grundlage von Salbers 1989 erschienen Buches "Der Alltag ist nicht grau" und vieler anderer seiner Untersuchungen stellen wir auf dieser Website in lockeren Abständen Alltagsformen dar. In diesem Beitrag geht es um die "Gemütliche Runde". Etwas zeitgemäßer kann man sie als "Quatsch-Runde" bezeichnen.

Eine beliebte Alltagform ist die gemütliche oder auch Quatsch-Runde. Die Pflichten sind erfüllt, man hat Zeit. In diesem Rahmen – durchaus auch in Arbeitspausen zwischendurch am Tag – setzen sich die Menschen zueinander und beginnen ein Gespräch. Eins kommt zum anderen und schon nimmt die Dynamik der gemütlichen Runde ihren Lauf.

Ein Organismus von Menschen

Man kann sich an dieser Alltagsform Individuen übergreifende, seelische Gestaltungen verdeutlichen. Wie ein Organismus zeigt sie sich damit beschäftigt, immer wieder aufkommende Unruhekeime zu bewältigen. Bewegungen gehen quer durch sie hindurch. Mal kommt eine vereinheitlichende Richtung auf, um sich dann in einzelne Wirbel zu zerlegen. Mal scheint sich eine Stille herzustellen, die sich dann aber in ein aufwallendes Lachen verwandelt. Alle werden von ihm mehr oder weniger durchgeschüttelt. Hat eine heftige Bewegung die ganze Gruppe erfasst, braucht es ein Nachbeben bis wieder ein Gleichgewicht gefunden ist. Formen dieser Art bauen sich auf und vergehen. Sie legen die Vermutung nahe, dass wir das Konstrukt des Individuums vielleicht höher bewerten, als es sich im Alltag wirklich zu erkennen gibt. Die Menschen lösen sich in „Gruppenorganismen“ auf und scheinen etwas davon zu haben.

Wie sieht es von innen aus, wenn man mitten drinsitzt in der gemütlichen Runde? Auch in dieser Position wird deutlich, dass Seelisches nicht in den Körpern oder Köpfen einzelner Menschen nistet. Der Witz des einen reißt die anderen mit. Das eigene Lachen wird von ihrem Gelächter verstärkt. Die kleine Geschichte, die jemand erzählt, spiegelt sich in den erwartungsvollen Blicken der anderen und findet an ihnen Kontur. Die behandelten Themen geben den Regungen unterschiedlicher Menschen Ausdruck, machen sie deutlicher, manchmal bis zur Schmerzgrenze. Sicher gibt es in der Runde auch immer Momente der Abgrenzung, wenn einem diese anstößige Bemerkung zu weit geht und jenes Lachen zu laut erscheint. Aber die Ausrichtung auf das Gemeinsame trägt zu deren Schwächung bei.

Das Versprechen der gemütlichen Runde

Die gemütliche Runde ist etwas anderes als der Small Talk, der auf einer Party geführt wird. Dort wird viel stärker an Förmlichkeiten festgehalten. Daher sind solche Begegnungen für viele Menschen auch anstrengend. In der spielähnlichen Verfassung der Quatsch-Runde kann mehr Unruhe untergebracht werden als auf steifen Empfangs- und Party-Konversationen. Ohne Sanktionen ist es möglich, über Abwesende Witze zu machen. Spitzen gegenüber Mitgliedern der Gruppe können im Gewand von Heiterkeit und Offenheit gelandet werden. Die Themen, um die der Austausch sich dreht, berühren Dinge, über die man sonst kaum spricht. Diese erweiterte Ausdrucksbildung im Rahmen spielerischer Angriffe, aber auch Verbrüderungen macht einen Reiz der gemütlichen Runde aus.

Es ist ungenau anzunehmen, in der Runde komme der Wunsch der Menschen nach Gemeinsamkeit auf seine Kosten. Es sind banale Themen – auch tabuisierte – des menschlichen Lebens, die Lust am Karikieren und am Überschreiten von Grenzen, was hier aufgerufen, ja erwünscht ist. Menschen bilden gerne „Herden“. Aber in der gemütlichen Runde produzieren sie Bedeutungen, die weit über die gegebene Situation hinausgehen. Das ganze menschliche Universum wird in ihnen mit bewegt. In der gemütlichen Runde etabliert sich so etwas wie eine erweiterte oder entfesselte Seele. Es ist befreiend, sich von angriffslustigen Sinnentwicklungen tragen zu lassen. Es ist wohltuend, eigene Geheimnisse gespiegelt zu sehen. Die sonst geltenden Grenzen sind anders gezogen. Hier wird umarmt, wovon man sich sonst abgrenzt. Und hier grenzt man sich von Regeln ab, die man sonst ‚umarmen‘ soll. Das Ausschwingen des Seelischen über die gewohnten Grenzen der Kultivierungsformen hinaus, dient der „Psycho-Hygiene“. Daher ist es nachvollziehbar, dass den Menschen diese Alltagform im Corona-Lockdown fehlte.

Abwandlungen der gemütlichen Runde

Wilhelm Salber hat häufig über den Mythos des gemeinsamen Mahls geschrieben. Es ist für die Kultur unverzichtbar, dass Menschen an einem Tisch zusammenkommen, sozusagen die Degen mit Besteck vertauschen und sich daran machen, gemeinsam Stoffe dieser Welt zu zerlegen und sich anzueignen. Ein für das friedliche Zusammenleben der Menschen wichtiger Vorgang.

Die gemütliche Runde hat eine ähnliche Bedeutung, ist aber im Ganzen noch beweglicher und freier als das gemeinsame Mahl. Hier sind weniger Regeln einzuhalten, das Nacheinander ergibt sich aus dem Augenblick. Denn es ist nicht – wie bei einem Essen – als Ablauf festgelegt. Daher geht von der gemütlichen Runde auch eine große Anziehungskraft aus. Die Menschen lieben ihre gemütlichen Runden. Sie lieben es, sich in ihr aufzulösen und sich dann wieder durch die auf sie reagierenden Blicke als etwas Gesondertes abzuheben. Es gibt keine andere Alltagsform, in der dieses Auflösen und Abheben eine ähnliche Zuspitzung erfährt. TV-Sitcoms bieten eine Medienunterhaltung an, die den Verhältnissen der gemütlichen Runde nahekommt. Aber es ist eines, Bedeutungsströme präsentiert zu bekommen und es ist etwas anderes, wenn man an der Produktion von Bedeutungen aktiv beteiligt ist. Denn dann verspürt man nicht nur das Risiko der Verletzung, sondern kann auch den Triumph des Gelingens stärker auskosten.

Von der gemütlichen Runde geht eine Reihenbildung aus. Die nächste Position wäre die feucht-fröhliche Runde, bei der der Austausch durch die Verflüssigung des Alkohols befeuert wird. Hier können die gemeinsamen Ausdrucksbildungen etwas Explosionsartiges haben. Die Witze platzen aus dem Ganzen heraus und bringen den Gruppen-Organismus in heftige Wallungen. Die schon in der gemütlichen Runde niedrigen Hemmschwellen sind noch ein Stück durchlässiger. Daher kann die feuchtfröhliche Runde auch abwertende und angriffslustige Züge annehmen. Je mehr die Gruppe zu einer Einheit verschmilzt, machen sich Abgrenzungen nach außen bemerkbar. Eine weitere Steigerung erfährt diese Freizeitform im Feiern. Hier kommen Musik und Rhythmus hinzu, die sprachlich formulierte Sinnbewegungen ersetzen und die Verschmelzungserlebnisse darüber noch einmal steigern.

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