Auf der Grundlage von Salbers 1989 erschienen Buches "Der Alltag ist nicht grau" und vieler anderer seiner Untersuchungen stellen wir auf dieser Website in lockeren Abständen Alltagsformen dar. In diesem Beitrag geht es um Krankheit und Krankenhausaufenthalt.
Gesundheit
Der Fluss der Alltagsformen wird reguliert durch einen Vorgang, den Wilhelm Salber als „Verstehen“ bezeichnet hat. Das Seelische sah er als einen Wirkungszusammenhang, der sich selbst versteht. Wir machen uns nicht eigens deutlich, wie Empfinden und Bewegen ineinandergreifen, wie die Formierungen unserer Handlung auseinanderhervorgehen, wenn wir eine Tasse Tee zubereiten oder auf der Straße unterwegs sind. Welt, Psychisches und der Zwang zur Verwandlung werden aufeinander abgestimmt, ohne dass wir das als Aufwand erleben.
Unser Körper fungiert dabei als Ausdrucksfeld. Lassen sich Vorsätze effektiv umsetzen, fühlen wir uns leicht und lebendig. Stoßen wir auf Hindernisse, erhöht sich der Herzschlag, verkrampfen sich die Muskeln. An den „Wirkungsqualitäten“ des Leibes erfahren wir die Formenbildung des Seelischen. Wenn der Körper ruhig seine Arbeit macht, wenn uns andere nicht in die Quere kommen, wenn unsere technischen Geräte nicht ausfallen, geht dieser „Fluss des Lebens“ seinen selbstverständlichen Gang. Wir nennen den Zustand „Wohlergehen“, „Normalzustand“ oder – bezogen auf das Körperliche – auch „Gesundheit“.
Krise des Verstehens
Manchmal zerreißt dieser selbstverständliche Zusammenhang von Empfinden und Bewegen. Man kann nicht mehr alles tun, was man will. Ein kleiner Gang zum Einkaufen wird zur Anstrengung. Eine tausendfach ausgeführte Bewegung ist plötzlich schmerzhaft. Banale Tätigkeiten wie Telefonieren, Zähneputzen türmen sich zu enormen Hindernissen auf. Körperfunktionen werden bemerkt. Der Herzschlag scheint außer Rand und Band zu geraten, die Darmfunktion macht sich selbständig und der Magen hebt sich als ein Ball des Schmerzes aus dem Ganzen heraus. Das kann sich so weit steigern, dass schließlich die „ganze Welt“ als Schmerz, als Schwindel oder Übelkeit erfahren wird. Solche „Krisen des Verstehens“ (W. Salber) bezeichnen wir als „Krankheit“.
Nun tritt ein Angewiesensein auf andere heraus. Halten sich Ausfälle und Einschränkungen in Grenzen, begeben wir uns zu Hause in die Obhut vertrauter Menschen. Ihre Eingriffe versuchen auszugleichen, was wir selbst nicht umsetzen können. Sie versorgen uns mit lindernden Mitteln, Essen und – soweit das möglich ist – ein wenig Behaglichkeit. Können auch sie uns nicht mehr weiterhelfen, müssen wir uns ins Krankenhaus begeben.
Verlust des Selbermachens
Jetzt erleben uns nicht nur angewiesen auf andere, sondern sogar auch auf anderes. Das Krankenhaus tauscht notwendig die ‚Normalität‘ des Alltags um in eine Welt kunstvoller Eingriffe, deren Sinn wir nicht immer verstehen. Banale Formen des Gefüttert-Werdens, Beschaut-Werdens, des Leidens und Nicht-Könnens werden gerahmt von ungeheuerlich hoch entwickelten Arrangements. Das kann so weit gehen, dass wir zu einem nacktem Fleischkloß in komplizierten Apparaturen werden. Rhythmische Geräusche von Maschinen halten uns vor, dass sich das Leben entäußert hat. Die Hilfe, die uns zuteilwird, nimmt uns alles ab.
Der Verlust des Selbermachens wird in Metamorphosen weitergeführt. Manche Patienten richten sich in einer Opferhaltung ein: stillhalten, alles hinnehmen und annehmen. Andere opponieren gegen den übermächtigen Apparat: Medikamente verweigern, auf andere Ärzte, Pflegekräfte und Räume bestehen, das Gesundheitssystem anklagen. Oder es wird zu beweisen versucht, dass man gar nicht krank und in vollem Besitz seiner Kräfte ist. In der Regel bleibt schließlich kaum anderes möglich, als sich in einer Haltung von Demut und Ergebenheit dem Behandlungssystem zu überlassen.
Chance für ein Anders-Machen
Vermutlich lässt sich ein gewisses Maß an Auftrennungen und Formalsierungen, an „Künstlichkeit“ nicht vermeiden, wenn es darum geht, körperliche Prozesse zu unterstützen, die sich im Alltag von selbst nicht mehr einstellen. Das „Gesundheitssystem“ tauscht mehr oder weniger notwendig die Normalität des Alltags in zwar kunstvolle, aber auch kaum nachvollziehbare Eingriffe um. Dieser Vertausch kann sich zu einem Automaten verkehren, der lebensnotwendige Kulturbildungen erstickt. Denn im modernen Gesundheitssystem wirkt „… ein übermenschlicher Wunsch, die ganze Schöpfung durch Apparate zu verstehen und zu regulieren.“ (W. Salber 2015, S. 47)
Und doch haben die Kranken nicht alles verloren. Indem sie durch die Krise hindurchgehen, stellt sich oft eine Bereitschaft ein, sich selbst, die anderen und die Dinge einmal anders zu sehen. So ist der Krankenhausaufenthalt schließlich eine Chance, anderswo wieder anzufangen, im Alltag auf anderes zu setzen als bisher. Indem der Körper von den Apparaten eingekreist wird, werden die Verwandlungskräfte des Seelischen entfesselt.
Text auf der Grundlage von W. Salber (1989): Der Alltag ist nicht grau (S. 114 f.) und W. Salber (2015): Gesundheit, ein Automat? (anders 22 – Zeitschrift für Psychologische Morphologie, 39-47)
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